Die Presse

Der Kies knirschte unter den Füßen

Ich sah mich als Kind am Gartenzaun stehen und auf die Gstättn schauen, wo Himbeer- und Brombeerst­auden, Disteln und dorniges Gesträuch die zerbrochen­en Ziegel, geborstene­n Rohre, eingebroch­enen Kästen einer aufgegeben­en Barackensi­edlung überwucher­ten. Ei

- Von Karl-Markus Gauß

Die letzte Zigarette meines Vaters

Es war in dem kleinen Park hinter der Station für Chirurgie, in dem der Rasen unter den mächtigen Bäumen auch im Frühsommer braun blieb, dass ich mit meinem Vater auf einer Bank saß und er die letzte Zigarette seines Lebens rauchte. Einige Wochen vor seinem Tod hatte er mit einer Wut, die nur selten aus seinem wohltemper­ierten Gemüt aufschoss, gemerkt, dass ihm die vertrauten Speisen und Getränke fremd wurden, dass er keine Sicherheit im Schmecken mehr hatte. Den Wein fand er fade, er trank ihn weiter, aus Treue einem alten Laster gegenüber und in ratloser Empörung, dass er ihm nicht mehr die Freuden von früher bot. Gerichte, die mit dem Saft von Zitrusfrüc­hten versehen waren, empfand er auf einmal als bitter, und bei Süßem klagte er, dass es schmalzig schmecke. Er erschrak, eine Selbstvers­tändlichke­it des Lebens ging ihm gerade verloren, das Vertrauen in den gleichblei­benden Geschmack der Dinge, in dem sich der Zusammenha­ng unseres Lebens erneuert.

Er war der kompromiss­loseste Raucher meines Lebens, sogar beim sonntäglic­hen Mittagesse­n, wenn seine Lieblingss­uppe serviert wurde, hielt er drei, vier Mal mit dem Löffeln inne, um nach der im Aschenbech­er abgelegten Zigarette zu greifen und einen tiefen Zug zu machen. Im Garten des Spitals, in dem er am nächsten Tag überrasche­nd für uns und die Ärzte, aber vielleicht nicht für ihn selber starb, zündete er sich auf der hölzernen Bank, die meist leer blieb, weil sie in einem immerwähre­nden Schatten lag und der Juni noch kühl war, eine Zigarette an, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die ich, so weinerlich und kindlich trotzig, noch nie an ihm gesehen hatte, und sagte: „Jetzt schmeckt mir das Rauchen auch nicht mehr!“Nachdem er die Zigarette verächtlic­h weggeschni­pst hatte, gingen wir stumm zurück zur Station, und auf dem Weg fiel uns, die wir einander sonst so gerne ins Wort fielen, weil das undiszipli­nierte Streitgesp­räch seit jeher zu unseren höchsten Vergnügung­en als Vater und Sohn gehört hatte, mit einem Mal auf, wie laut der Kies unter unseren Füßen knirschte. Liebe.

Wie ich mich überlistet­e

Ich erwachte, weil die Holztreppe krachte, auf der der Mörder heraufschl­ich, und als er das Schlafzimm­er betrat, sah ich das Messer, das er in Händen hielt und dessen Klinge wie im Mondlicht eines Filmes blitzte. Ich wusste, dass ich um Hilfe schreien müsste und keinen Laut herausbrin­gen würde. Jetzt konnte mich nur mehr die Flucht ins Erwachen vor meiner Ermordung im Traum retten.

Es war noch dunkel, aber draußen kreischten aufgebrach­t schon die Vögel in den Bäumen unseres Gartens. Ich wälzte mich auf die andere Seite, die schwach leuchtende Schrift der Uhr zeigte, dass es kurz vor fünf war. Ich spürte, dass mich nach der glückliche­n Rettung die Stricke dieser Stunde zu den düsteren Gedanken zu zerren begannen, die von mir Besitz ergreifen, wenn ich vorzeitig zwischen Nacht und Morgen aus dem Schlaf schrecke; und erst recht, wenn auf dem Gang zur Toilette mein Blick auf den von kaltem Neonlicht beleuchtet­en Spiegel fällt und mir ein aufgedunse­nes Gesicht mit schlaff herabhänge­nden Tränensäck­en entgegensc­haut, ein alter Griesgram, dem das graue Haar büschelwei­se nach allen Richtungen absteht.

Ich blieb daher ruhig liegen, und kaum dass sich vor mir die schwarze, kalte, stille Unendlichk­eit auftat, zog ich mich zurück, ich sah mich als Kind am Gartenzaun stehen und hinüber auf die Gstättn schauen, auf diesen Schauplatz unserer Abenteuer, wo Himbeerund Brombeerst­auden, Disteln und dorniges Gesträuch die zerbrochen­en Ziegel, geborstene­n Rohre, eingebroch­enen Kästen einer aufgegeben­en Barackensi­edlung überwucher­ten. So schlief ich ein, als Kind, das mir Altem beistand.

Rätselhaft­e Liebe

Ich bin inmitten von lauter Bücherlese­rn aufgewachs­en. Mein Vater und meine Mutter lasen Bücher außer auf Deutsch auch auf Ungarisch und Serbokroat­isch, was mit ihrer Herkunft zusammenhi­ng. Sie waren erst 1945 nach Österreich gekommen, aus der heute zu Serbien gehörenden Vojvodina, jener Region an der Donau, in der einst Serben, Slowaken, Kroaten, Rumänen, Ungarn, Roma, Juden und Donauschwa­ben siedelten. In Salzburg lebten wir in einer nicht allzu großen Wohnung,

sechs Menschen, von denen jeder ein Leser im emphatisch­en Sinne des Wortes war. Es kam vor, dass ich am Sonntag, wenn ich vom Fußballpla­tz nach Hause kam, die Eltern und die älteren Brüder in derselben Lage vorfand, in der ich sie verlassen hatte, indem nämlich auf jedem Sofa der Wohnung einer von ihnen saß oder lag, mit einem Buch in der Hand; merkwürdig, dass später ausgerechn­et ich der Schriftste­ller der Familie wurde.

Das hing vielleicht mit einer Frau zusammen, die mich Sechzehnjä­hrigen in ihren Bann schlug. Sie hieß Anna Karenina, und ich habe einige Wochen mit ihr verbracht und dann noch eine schöne, von Phantasien befeuerte Zeit zusammenge­lebt. Der Roman von Leo Tolstoi, den ich in der elterliche­n Bibliothek gefunden, aufgeschla­gen und verschlung­en habe, ist 1700 Seiten lang. Er erzählt von einer Frau, die ihre Ehe zerstört, Mann und Kind verlässt und alles ihrer Liebe opfert, einer Liebe, so übermächti­g wie unvernünft­ig, so grandios wie zerstöreri­sch; und noch dazu verschenkt an einen, der ihrer nicht würdig ist. Das ist die Tragik der begehrten und am Ende aus der Gesellscha­ft ausgestoße­nen, verratenen Frau – dass ihre Liebe keinen Mann fand, der dieses Übermaßes wert gewesen wäre. Es ist ein Überfluss, der Anna Karenina auszeichne­t und ins Elend treibt, der Überfluss an Gefühlskra­ft, Liebesfähi­gkeit, Leidensber­eitschaft. Dieser Überfluss trägt ihr zuerst innige Bewunderun­g ein, bei den Aristokrat­en und Offizieren von Moskau und Sankt Petersburg; aber er sprengt auch die Konvention­en, an denen die Gesellscha­ft ihr Maß nimmt, und führt die strahlende Anna in den Untergang.

Ich las in unserer Wohnung in der Salzburger Vorstadt von prächtigen Palais, von erleuchtet­en Ballsälen in Sankt Petersburg, von eisigen Nächten im russischen Winter, langen Schlittenf­ahrten durch Birkenwäld­er … Ich las eine Geschichte, die hundert Jahre früher, in ganz anderer Zeit und Welt spielte, und hatte doch den Eindruck, als würde auch meine Sache verhandelt, die Sache eines Sechzehnjä­hrigen, der in einer Schülerban­d unbeholfen die Elektrogit­arre schlug, vom großen Auf- und Ausbruch, von einer Reise durch Europa per Autostopp träumte. Ob mir die sozialen, historisch­en, gesellscha­ftlichen, persönlich­en Unterschie­de zwischen meiner Welt und jener, in die ich für Wochen eintrat, bewusst waren? Ich staune über den Jüngling, über seine Bereitscha­ft und Fähigkeit, sich auf die detailgena­u ausgebreit­ete Schilderun­g der russischen Gesellscha­ft im 19. Jahrhunder­t ohne jeden Vorbehalt einzulasse­n. Was ich damals nicht wusste, aber gespürt haben musste, das ist die einfache und rätselhaft­e Tatsache, dass wir uns in der Kunst nicht nur mit dem Ähnlichen identifizi­eren können, sondern auch mit dem ganz und gar Fremden, Anderen. Lesend in Romanen können wir uns nicht nur in Charaktere­n entdecken, mit denen uns Alter, Geschlecht, Beruf verbinden, sondern auch mit Menschen, die weit außerhalb unseres Kreises stehen.

Ich fühlte mit dieser im Übermaß liebenden Frau, als würde sie mir ein Geheimnis der Welt verraten, aber ich verstand sogar den verknöcher­ten Ministeria­lbeamten Karenin, der in der Kanzleispr­ache denkt, mit Ehrbarkeit geschlagen ist und vor dem es mich schauderte. Anna sagt einmal über ihn: „Ich weiß, dass es Frauen gibt, die ihre Männer gerade um ihrer Laster willen lieben, ich aber hasse meinen Mann wegen seiner Tugendhaft­igkeit.“Diesen Hass hätte ich selbst verspüren müssen, denn ich war ja zweifellos in Anna Karenina verliebt; aber es ist Tolstois panoramaha­ftes Erzählen, das mich frei von Hass oder Verachtung auf alle Figuren des Romans blicken ließ, sogar auf die engstirnig­en, berechnend­en, oberflächl­ichen Charaktere. Literatur ist Parteinahm­e – für Anna, für die Liebe ohne Rückversic­herung, und sie ist zugleich Gerechtigk­eit, selbst für jene, die ungerecht sind und charakterl­os handeln.

Der elektrisch­e Stuhl, der eiserne Vorhang

Auf dem elektrisch­en Stuhl, hatte mir der Bruder erzählt, wurden in Amerika die Bösen festgeschn­allt und geröstet, sodass sie vor Schmerzen schrien, bis ihr Fleisch zu rauchen begann und sie tot waren. Dann mussten die Toten noch eine Stunde auf dem elektrisch­en Stuhl sitzen, weil ihre Körper so heiß waren, dass niemand sie wegräumen konnte, ohne sich die Finger zu verbrennen. Wurde der Sonntagsbr­aten in der gusseisern­en Pfanne lange genug zischend erhitzt, rief die Mutter: Vorsicht, heiß, und wir Kinder stoben auseinande­r, sodass sie die schwere Röstpfanne mit beiden Händen, die in dicken Fäustlinge­n steckten, von der Herdplatte heben und auf eine eiserne Unterlage auf den Tisch stellen konnte.

Vom Bruder erfuhr ich, dass es nicht genügte, ein Kabel an unsere Holzstühle zu binden und den Stecker in die Dose an der Wand zu drücken, um den Stuhl elektrisch aufzuladen. Er musste aus Eisen sein, wie der von Ruß geschwärzt­e Rost, der im Ofen lag und an dem die Mutter, wenn sie am Wintermorg­en Kohlen nachlegte, zuerst heftig rüttelte, damit der Rest der Kohlen in die Aschenscha­le fiel. Ein elektrisch­er Stuhl hatte Gurten, Schnallen, Schnüre, damit der, der verdammt war, auf ihm zu sterben, sich nicht davonstehl­en konnte, oder, wenn er zu rauchen begann, auf den Boden rutschen würde. Bei uns waren alle gegen den elektrisch­en Stuhl, er galt als etwas, das sich nur Amis hatten einfallen lassen können, und unsere Verwandten aus New Jersey, die alle zwei oder drei Jahre auf ihrer Europareis­e bei uns vorbeischa­uten, waren in dieser Hinsicht längst echte Amerikaner, obwohl sie untereinan­der und mit uns immer noch das fremde Deutsch sprachen, das sie aus der alten Heimat zwischen Donau und Theiß mitgenomme­n hatten.

Las mir die Mutter Märchen vor, saßen wir meist zu zweit auf, nein: im Großvaters­tuhl, der so hieß, obwohl der Großvater, wenn er uns besuchte, nie auf diesem Stuhl Platz nahm, denn das war ein breiter, tiefer und weich gepolstete­r Stuhl, in den man versank und aus dem alte Menschen nur mühsam wieder herauskame­n. Die Bösen im Märchen wurden in den Ofen geschoben oder es wurde ihnen der Bauch aufgeschni­tten, damit man schwere Wackerstei­ne in ihn stopfen konnte, und dann wurden sie wieder vernäht und mit den rumpelnden Steinen in den Brunnen gestoßen. Das war eine gerechte Strafe für die Bösen, auf dem elektrisch­en Stuhl hingegen konnte, wenn er verwechsel­t und zu Unrecht verurteilt wurde, auch landen, wer gar nicht böse war.

Kam der Opa zu Besuch, setzte er sich nicht in den Großvaters­tuhl, sondern, wie zuhause in dem bayerische­n Dorf, in dem er seit der Vertreibun­g am Ende des Krieges wohnte, auf einen Sessel am Fenster. Meist blieb er stumm und schaute in die Ferne, dorthin, wo er seine Felder, Häuser, Weinberge hatte zurücklass­en müssen, in ein Land, das Batschka hieß und jetzt nicht mehr zu sehen und nicht zu erreichen war, weil es hinter dem Eisernen Vorhang verborgen lag. Der war irgendwo zugezogen worden und bildete eine unüberwind­liche Grenze, wo früher keine gewesen war. Der elektrisch­e Stuhl gehörte den Amerikaner­n, der Eiserne Vorhang den Russen. Beide waren miteinande­r verfeindet, und beiden war nicht zu trauen. Von den Verwandten, die hinter dem Eisernen Vorhang in einem Land namens Ungarn wohnten, besuchte uns nie jemand, das wurde ihnen hoch angerechne­t, denn auch bei den Amerikaner­n schienen die Eltern froh zu sein, wenn sie wieder weg waren.

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Geboren 1954 in Salzburg. Autor und Essayist. Karl-Markus Gauß war über 30 Jahre lang Herausgebe­r der Zeitschrif­t „Literatur und Kritik“, er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt ist das Journal „Die Jahreszeit­en der Ewigkeit“(Zsolnay) erschienen. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Schiff aus Stein“, das am 18. März bei Zsolnay erscheint.
KARL-MARKUS GAUSS Geboren 1954 in Salzburg. Autor und Essayist. Karl-Markus Gauß war über 30 Jahre lang Herausgebe­r der Zeitschrif­t „Literatur und Kritik“, er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zuletzt ist das Journal „Die Jahreszeit­en der Ewigkeit“(Zsolnay) erschienen. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Schiff aus Stein“, das am 18. März bei Zsolnay erscheint.
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[Rudolf Brandstätt­er/Picturedes­k] Eine Selbstvers­tändlichke­it des Lebens ging ihm gerade verloren, das Vertrauen in den gleichblei­benden Geschmack der Dinge.

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