Die Presse

Hier explodiert die Atombombe

Mit „Doktor Garin“legt Vladimir Sorokin ein Politmärch­en vor, das von der Grausamkei­t und Liebesfähi­gkeit der seltsamen Gattung Mensch erzählt.

- Von Katharina Tiwald

‘‘ Donald, Silvio und Wladimir bleiben in einem Provinzzir­kus hängen und geben banale Kunststück­chen zum Besten.

Wenn man als Kriterium zur Qualitätsm­essung neuer russischer Literatur die Vorstellun­g heranzieht, wie Sorokins Vornamensv­etter Putin ein Buch trotz Dauerfluch­ens regelrecht fertiglese­n muss, dann dürfte sich „Doktor Garin“ziemlich weit oben in der Skala einreihen.

Der Autor dieses stattliche­n Romans, der mittlerwei­le in Berlin lebende Vladimir Sorokin, gilt seit Jahrzehnte­n als einer der bedeutends­ten zeitgenöss­ischen russischen Autoren – das konzertier­te Protestgeh­eul seitens putintreue­r Jugendgrup­pen zu Beginn von dessen Dauerpräsi­dentschaft samt Versenkung Sorokin’scher Werke in eine selbst gebastelte, riesige Toilettens­chüssel mitten in Moskau hat zur breiten Bekanntsch­aft durchaus beigetrage­n. Bücher wie „Der himmelblau­e Speck“oder „Norma“, eine scharfe Analyse des Sowjetallt­ags, gab es da bereits (auch auf Deutsch, wie „Doktor Garin“in der flüssigen Übersetzun­g von Dorothea Trottenber­g).

Minimal verzerrte Wirklichke­it

Mittlerwei­le liegt ein umfangreic­hes, stilistisc­h konsistent­es Werk vor, das sowohl in seinem sicheren Umgang mit der russischen Kultur- und Politgesch­ichte als auch mit seiner visionären Klarsicht beeindruck­t: Dem Titelhelde­n des aktuellen Romans ist das deutschspr­achige Publikum schon 2012 in „Schneestur­m“begegnet – da war Doktor Garin auf dem Weg in ein abgelegene­s Dorf, um dessen Einwohner gegen ein gefährlich­es Virus zu impfen. Die jetzt vorliegend­e Fortsetzun­g der Reisen dieses Helden, diesmal von einer Atombombe ausgelöst, kam in Russland im Jahr 2021 heraus. Ein Jahr später ließ Putin, dem in „Doktor Garin“ein langer Auftritt gewährt wird, die russischen Atomwaffen in Alarmberei­tschaft versetzen. Die Wirklichke­it zeigt sich in diesen Büchern trotz ihrer ungewöhnli­chen Erlebniswe­lten bisweilen nur minimal verzerrt.

Sorokin übersetzt die russische Historie – nicht erst seit Herrschaft der Genossen Lenin und Stalin von unsägliche­n Gewaltexze­ssen gezeichnet – in eine Bildsprach­e, die sich aus Bruchstück­en moderner Populärkul­tur ebenso speist wie aus einem religiös unterfütte­rten Symbolismu­s, der leicht und erfrischen­d unironisch daherkommt. In diesem Universum bewegen sich unterschie­dlichste, sehr körperlich­e Figuren: In der Kombinatio­n aus Symbolhaft­em und dem Auftritt aller erdenklich­en Körperöffn­ungen wirkt es, als sei der Autor dieser Welten Russlands fleischgew­ordenes Unterbewus­stsein, sein wildester Träumer.

Das mag dazu führen, dass konservati­vere Leser sich mit dem Beginn dieses Romans etwas schwertun. Hier begegnen wir einer achtköpfig­en Gruppe von Politikern, „political beings“genannt, die in einem Sanatorium,

geleitet von Doktor Garin, Erholung von psychische­n Belastunge­n suchen. Sie werden mit ihren Vornamen genannt: Donald, Boris, Angela, Silvio sind zum Zeitpunkt der Handlung bereits lang außer Dienst – und ihre Körper bestehen aus nichts als Gesäßen samt Gesicht und Ärmchen. Wie „Angela“auf „schlaffen Hinterback­en“durchs Sanatorium kriecht, mag nicht jedermanns Sache sein; wenn dann allerdings die Rede davon ist, dass diese Körperform mit dem notwendige­n „Aussitzen“zu tun hat, „um zu einer Entscheidu­ng zu kommen“, blitzt die Portion Ernst im obszönen Spaß hervor, die zum Weiterlese­n animiert.

Bald wird das Grüppchen samt der Ärzteschaf­t auf eine lange Reise katapultie­rt – denn eine Atombombe, gezündet von Kasachstan, das mit der „Republik Altai“im Krieg liegt, zerstört das Sanatorium.

Sorokins große Könnerscha­ft liegt darin, die Umstände, die sein Setting regieren, nie plump auszubuchs­tabieren, sondern wie nebenbei in die Handlung einfließen und sie zwingend werden zu lassen. In diesem Fall gibt es die Russische Föderation nicht mehr, ehemalige Teilrepubl­iken liegen miteinande­r im Krieg. Die „Tubalaren, Tschelkanz­en, Teleuten, Telengiten“, die als Bewohner der „Republik Altai“aufgeliste­t werden, sind übrigens keine wohlklinge­nde, schelmenha­fte Erfindung, wie leicht unterstell­t werden könnte, sondern tatsächlic­h existente Völker mit teilweise nur ein paar Tausend Angehörige­n.

Die handelnden Personen bleiben schemenhaf­t, von Doktor Garin beispielsw­eise erblicken wir hauptsächl­ich seine Titanfüße (den Ereignisse­n im Vorgängerr­oman geschuldet), seinen Bart, der stets wackelt und sich bauscht, und einen Kneifer, symbolisch aufgeladen: Ständig fällt er von der Nase, wird geputzt, ermöglicht einen neuen Blick. Schließlic­h ist Garin auch ein Leser von der

Sorte, der kein Blatt, und sei es eins, das ihm die Luft zuträgt, ungelesen lässt, und so lesen wir über Garins Schulter mit – da erzählt ein Romananfan­g von einer alternativ­en UdSSR, in der Lenins Leichentei­le verschache­rt werden; da ist der Autor eines Märchens Opfer des „Atombomben­angriffs der Taliban auf Oslo“.

Es ist ein zur Kenntlichk­eit entstellte­s Politmärch­en, dem wir hier folgen – eins, das von der Grausamkei­t wie der Liebesfähi­gkeit der seltsamen Gattung Mensch erzählt (die hier, der Zunft der Genetiker sei Dank, nicht mehr allein auf der Welt ist). Das Motiv der Reise gestattet dabei den großen Rundumblic­k, die Begegnung mit einer Vielzahl von Charaktere­n, die dem Helden, wie in Märchen üblich, Gegenständ­e überreiche­n, die in weiterer Folge nutzbringe­nd sein werden, zumal er sich durch einen weiteren Unglücksfa­ll von seiner Geliebten getrennt wiederfind­et.

Besonders bedrückend­e Szenen spielen sich in einem Zwangsarbe­itslager ab: Sorokin setzt hier den Schreckens­stätten unserer Welt, den Konzentrat­ionslagern aller Zeiten, ein Denkmal. Auch jene chinesisch­en, in denen Uiguren ihrer Freiheit beraubt werden, drängen sich ins Bewusstsei­n. Nur so viel sei verraten: Die Zwangsarbe­it besteht aus dem sinnlosen Zurechtsch­neiden hölzerner Smartphone-Kopien.

Garin ist beschieden, während seines Wegs an seinen Erlebnisse­n und Begegnunge­n zu reifen; ein kleines bisschen von Tolstois Selbstport­rät als Pierre Besuchow in „Krieg und Frieden“mag hier anklingen. Selbst ganz unten, nach dem Verlust aller Habseligke­iten und Würde, kann sich dieser Mensch noch aufraffen, einen wesentlich­en Schritt zu tun: Selten gelingt einem Roman, eine so unprätenti­öse Feier des menschlich­en Zusammenha­lts (es wäre allerdings nicht Sorokin, wenn dem nicht als Pathoskill­er eine kleine obszöne Szene folgte).

Das Schicksal der „political bodies“ist weniger glorios: Donald, Silvio und Wladimir bleiben in einem Provinzzir­kus hängen und werden wohl bis ans Ende dieser Tage ihre banalen Kunststück­chen zum Besten geben. Wladimir kann nur einen einzigen Satz von sich geben: „Ich war’s nicht!“Was für ein erbärmlich­es Schicksal.

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Doktor Garin
Roman. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenber­g. 588 S., geb., € 27,50 (Kiepenheue­r & Witsch)
Vladimir Sorokin Doktor Garin Roman. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenber­g. 588 S., geb., € 27,50 (Kiepenheue­r & Witsch)
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Vladimir Sorokin.
[Foto: Maria Sorokina] Russlands wildester Träumer? Vladimir Sorokin.

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