Hier explodiert die Atombombe
Mit „Doktor Garin“legt Vladimir Sorokin ein Politmärchen vor, das von der Grausamkeit und Liebesfähigkeit der seltsamen Gattung Mensch erzählt.
‘‘ Donald, Silvio und Wladimir bleiben in einem Provinzzirkus hängen und geben banale Kunststückchen zum Besten.
Wenn man als Kriterium zur Qualitätsmessung neuer russischer Literatur die Vorstellung heranzieht, wie Sorokins Vornamensvetter Putin ein Buch trotz Dauerfluchens regelrecht fertiglesen muss, dann dürfte sich „Doktor Garin“ziemlich weit oben in der Skala einreihen.
Der Autor dieses stattlichen Romans, der mittlerweile in Berlin lebende Vladimir Sorokin, gilt seit Jahrzehnten als einer der bedeutendsten zeitgenössischen russischen Autoren – das konzertierte Protestgeheul seitens putintreuer Jugendgruppen zu Beginn von dessen Dauerpräsidentschaft samt Versenkung Sorokin’scher Werke in eine selbst gebastelte, riesige Toilettenschüssel mitten in Moskau hat zur breiten Bekanntschaft durchaus beigetragen. Bücher wie „Der himmelblaue Speck“oder „Norma“, eine scharfe Analyse des Sowjetalltags, gab es da bereits (auch auf Deutsch, wie „Doktor Garin“in der flüssigen Übersetzung von Dorothea Trottenberg).
Minimal verzerrte Wirklichkeit
Mittlerweile liegt ein umfangreiches, stilistisch konsistentes Werk vor, das sowohl in seinem sicheren Umgang mit der russischen Kultur- und Politgeschichte als auch mit seiner visionären Klarsicht beeindruckt: Dem Titelhelden des aktuellen Romans ist das deutschsprachige Publikum schon 2012 in „Schneesturm“begegnet – da war Doktor Garin auf dem Weg in ein abgelegenes Dorf, um dessen Einwohner gegen ein gefährliches Virus zu impfen. Die jetzt vorliegende Fortsetzung der Reisen dieses Helden, diesmal von einer Atombombe ausgelöst, kam in Russland im Jahr 2021 heraus. Ein Jahr später ließ Putin, dem in „Doktor Garin“ein langer Auftritt gewährt wird, die russischen Atomwaffen in Alarmbereitschaft versetzen. Die Wirklichkeit zeigt sich in diesen Büchern trotz ihrer ungewöhnlichen Erlebniswelten bisweilen nur minimal verzerrt.
Sorokin übersetzt die russische Historie – nicht erst seit Herrschaft der Genossen Lenin und Stalin von unsäglichen Gewaltexzessen gezeichnet – in eine Bildsprache, die sich aus Bruchstücken moderner Populärkultur ebenso speist wie aus einem religiös unterfütterten Symbolismus, der leicht und erfrischend unironisch daherkommt. In diesem Universum bewegen sich unterschiedlichste, sehr körperliche Figuren: In der Kombination aus Symbolhaftem und dem Auftritt aller erdenklichen Körperöffnungen wirkt es, als sei der Autor dieser Welten Russlands fleischgewordenes Unterbewusstsein, sein wildester Träumer.
Das mag dazu führen, dass konservativere Leser sich mit dem Beginn dieses Romans etwas schwertun. Hier begegnen wir einer achtköpfigen Gruppe von Politikern, „political beings“genannt, die in einem Sanatorium,
geleitet von Doktor Garin, Erholung von psychischen Belastungen suchen. Sie werden mit ihren Vornamen genannt: Donald, Boris, Angela, Silvio sind zum Zeitpunkt der Handlung bereits lang außer Dienst – und ihre Körper bestehen aus nichts als Gesäßen samt Gesicht und Ärmchen. Wie „Angela“auf „schlaffen Hinterbacken“durchs Sanatorium kriecht, mag nicht jedermanns Sache sein; wenn dann allerdings die Rede davon ist, dass diese Körperform mit dem notwendigen „Aussitzen“zu tun hat, „um zu einer Entscheidung zu kommen“, blitzt die Portion Ernst im obszönen Spaß hervor, die zum Weiterlesen animiert.
Bald wird das Grüppchen samt der Ärzteschaft auf eine lange Reise katapultiert – denn eine Atombombe, gezündet von Kasachstan, das mit der „Republik Altai“im Krieg liegt, zerstört das Sanatorium.
Sorokins große Könnerschaft liegt darin, die Umstände, die sein Setting regieren, nie plump auszubuchstabieren, sondern wie nebenbei in die Handlung einfließen und sie zwingend werden zu lassen. In diesem Fall gibt es die Russische Föderation nicht mehr, ehemalige Teilrepubliken liegen miteinander im Krieg. Die „Tubalaren, Tschelkanzen, Teleuten, Telengiten“, die als Bewohner der „Republik Altai“aufgelistet werden, sind übrigens keine wohlklingende, schelmenhafte Erfindung, wie leicht unterstellt werden könnte, sondern tatsächlich existente Völker mit teilweise nur ein paar Tausend Angehörigen.
Die handelnden Personen bleiben schemenhaft, von Doktor Garin beispielsweise erblicken wir hauptsächlich seine Titanfüße (den Ereignissen im Vorgängerroman geschuldet), seinen Bart, der stets wackelt und sich bauscht, und einen Kneifer, symbolisch aufgeladen: Ständig fällt er von der Nase, wird geputzt, ermöglicht einen neuen Blick. Schließlich ist Garin auch ein Leser von der
Sorte, der kein Blatt, und sei es eins, das ihm die Luft zuträgt, ungelesen lässt, und so lesen wir über Garins Schulter mit – da erzählt ein Romananfang von einer alternativen UdSSR, in der Lenins Leichenteile verschachert werden; da ist der Autor eines Märchens Opfer des „Atombombenangriffs der Taliban auf Oslo“.
Es ist ein zur Kenntlichkeit entstelltes Politmärchen, dem wir hier folgen – eins, das von der Grausamkeit wie der Liebesfähigkeit der seltsamen Gattung Mensch erzählt (die hier, der Zunft der Genetiker sei Dank, nicht mehr allein auf der Welt ist). Das Motiv der Reise gestattet dabei den großen Rundumblick, die Begegnung mit einer Vielzahl von Charakteren, die dem Helden, wie in Märchen üblich, Gegenstände überreichen, die in weiterer Folge nutzbringend sein werden, zumal er sich durch einen weiteren Unglücksfall von seiner Geliebten getrennt wiederfindet.
Besonders bedrückende Szenen spielen sich in einem Zwangsarbeitslager ab: Sorokin setzt hier den Schreckensstätten unserer Welt, den Konzentrationslagern aller Zeiten, ein Denkmal. Auch jene chinesischen, in denen Uiguren ihrer Freiheit beraubt werden, drängen sich ins Bewusstsein. Nur so viel sei verraten: Die Zwangsarbeit besteht aus dem sinnlosen Zurechtschneiden hölzerner Smartphone-Kopien.
Garin ist beschieden, während seines Wegs an seinen Erlebnissen und Begegnungen zu reifen; ein kleines bisschen von Tolstois Selbstporträt als Pierre Besuchow in „Krieg und Frieden“mag hier anklingen. Selbst ganz unten, nach dem Verlust aller Habseligkeiten und Würde, kann sich dieser Mensch noch aufraffen, einen wesentlichen Schritt zu tun: Selten gelingt einem Roman, eine so unprätentiöse Feier des menschlichen Zusammenhalts (es wäre allerdings nicht Sorokin, wenn dem nicht als Pathoskiller eine kleine obszöne Szene folgte).
Das Schicksal der „political bodies“ist weniger glorios: Donald, Silvio und Wladimir bleiben in einem Provinzzirkus hängen und werden wohl bis ans Ende dieser Tage ihre banalen Kunststückchen zum Besten geben. Wladimir kann nur einen einzigen Satz von sich geben: „Ich war’s nicht!“Was für ein erbärmliches Schicksal.