Die Einsamkeit einer Vulkanologin
Nomadisches Denken und Exilerfahrung durchziehen Volha Hapeyevas Roman „Samota“.
Für den Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“wurde die aus Belarus stammende Autorin, promovierte Linguistin und Übersetzerin 2022 mit dem „Wortmeldungen“-Preis ausgezeichnet, denn sie setzt „despotischen Machtstrukturen ein poetisches, nomadisches Denken entgegen“, so die Jury. Die Erfahrung des dauernden Exils ist in Sätzen wie „Ich nahm ausländische Städte mittlerweile nicht mehr als fremd wahr“auch ihrem neuen Roman „Samota“eingeschrieben. „Einsamkeit“bedeutet dieser Titel in vielen slawischen Sprachen, so hat man ihm in der deutschen Übersetzung den Untertitel „Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber“verpasst. Das Buch konnte 2021 noch in Minsk erscheinen, aber Volha Hapeyeva hat ihr Heimatland seit 2020 nicht mehr gesehen.
Auch ein poetisches, nomadisches Denken durchzieht den ganzen Roman, und es hat weniger eine politische Diktatur im Visier als ökonomische Verwertungszusammenhänge, die auch Tiere nur als „Material“sehen können. Immer wieder werden die Zusammenhänge dieser Perspektive mit individuellen psychischen Dispositionen deutlich. Die IchErzählerin Maja, eine Vulkanologin, die sich in einem japanischen Hotel aufhält, hat ein Ohr für „das Atmen der alles absorbierenden Stille, die kahle Stellen schafft, Pforten der Angst und des Unglaubens errichtet, an denen man so leicht unumkehrbar innehält, erstarrt, verstummt“. Maja, der Hypersensiblen, die sich nur schwer abgrenzen kann, steht die forschere Dozentin Helga-Maria gegenüber. Die eine spürt einem Kindheitstrauma nach, dem Verlust ihres geliebten Hundes, die andere hat ihren liebsten Menschen verloren.
Wahrnehmung von sozialen Riten
Diese Zusammenhänge erschließen sich erst durch Kapitel aus einer auktorialen Erzählperspektive, die den empathischen Sebastian in Konfrontation mit dem skrupellosen Wolfsjäger Mészáros zeigen. Sebastian verkörpert die zentrale Achse des Romans, denn ihn „interessierte der Zusammenhang zwischen der menschlichen Schwermut und der Fähigkeit, Schönheit wahrzunehmen und Mitgefühl zu empfinden“. Das letzte Wort hat im 14. Kapitel freilich die Ich-Erzählerin: „Einsamkeit. Lonelines. Samota – Worte, die ich wie Ringe auf eine Stange werfe, und doch fliegen sie alle daran vorbei.“
Volha Hapeyevas Roman ist stark in den Wahrnehmungen von sozialen Riten und Gesten, von Menschen und Tieren, von Stille und Einsamkeit. Doch gegen Ende erlebt man Helga-Maria bei ihrer Vorlesung, und so kommt leider auch der Roman ins Dozieren; gelegentlich macht sich dabei behäbiger Tiefsinn breit. Das Lektorat hat nicht nur eine weitgehend inkonsequente Interpunktion übersehen, sondern auch ein paar stilistische Schnitzer und richtige Fehler („zusammen ziehen“statt „zusammenziehen“).
All das verdirbt einem nicht die Freude an der Lektüre, denn eine Formulierung aus dem letzten Kapitel des Romans kann man auch auf ihn selbst anwenden: „Die Welt existiert wie eine parallele Realität, und mit jedem Buch vervielfältigt sich die Anzahl der Realitäten.“Und außer an den wenigen Stellen, an denen Maja in plumpes Psychologisieren verfällt, überzeugt der Zusammenhang von Melancholie, Einsamkeit und Empathie.