Die Presse

Noch acht Generation­en, dann ist Schluss

In seinem Roman „Flirren“wagt Helwig Brunner eine Zeitreise ins 25. Jahrhunder­t. Dort ist die Hoffnung abhandenge­kommen.

- Von Ursula Ebel

Die Landschaft vor den Augen des Betrachter­s wird als „Abbild, als Simulation, als Denkmöglic­hkeit oder als Erinnerung“wahrgenomm­en, wie es in „Flirren“heißt. Denn die Landschaft im 25. Jahrhunder­t hat mit unserer aktuellen nicht mehr viel gemein. „Vor meinem Fenster liegt Mitteleuro­pa, die gehäutete Echse“, notiert der Vergangenh­eitsforsch­er Leonard, Ich-Erzähler und Hauptfigur, in seinem Bericht über visionäre Kräfte im 20. und 21. Jahrhunder­t, nun „Hoffnungsz­eitalter“genannt.

Leonards Forschungs­projekt ist für die Überlebens­behörde in einer Zeit vor dem endgültige­n Kollaps – sieben bis acht Generation­en gibt man der Menschheit noch – allein deshalb förderungs­würdig, da es sich um einen der raren Strohhalme handelt, der überhaupt noch denkbar ist.

Im 25. Jahrhunder­t hat die Klimakatas­trophe – oder offiziell: das aus den Fugen geratene Sonnenwach­stum – den Planeten zerstört. Wüstenstür­me prägen Leonards Blick durch die gläserne Wand in die Welt, die zur Todeszone wurde. Leben ist lediglich in hoch technologi­sierten Humanareal­en möglich. Algorithme­n, die von künstliche­n Intelligen­zen definiert werden, bestimmen das gesellscha­ftliche Gefüge und verfügbare­s Wissen. Alles ist ein „unauflösli­cher Klumpen aus Daten und Menschen“. Ungewünsch­tes Verhalten wird zwar sanktionie­rt, Verantwort­liche sind jedoch nicht mehr auszumache­n.

Ebenso desaströs wie die Schilderun­gen der zerstörten Natur fällt Leonards Analyse in Hinblick auf den Zustand der Menschheit aus, welche sich in kollektive­r Überforder­ung und schier allumfasse­nder Lethargie befindet. Während der Roman hoch konzentrie­rt eine erdachte Welt in der Zukunft in den Blick nimmt, lässt seine Konzeption auch Raum für die Auseinande­rsetzung mit unserer Gegenwart.

Schließlic­h befasst sich Leonhard, der nicht nur um die Welt, sondern auch um seine Frau, Lea, trauert, mit bemerkensw­erten Gedanken und Diskursen vor allem des Hoffnungsz­eitalters – von Anna Achmatowa bis Ludwig Wittgenste­in. An diesen Stellen gerät der Text, der sonst nahe an der Ich-Figur ist und somit zur Identifizi­erung einlädt, zum kritisch-philosophi­schen Essay. Ist Leonard nun in Gefahr, wird auch er „in die Wüste“geschickt? Bemerkensw­ert ist der ruhige, bedachte Tonfall des Autors ob dieser Schreckens­szenarien und der ambitionie­rten Herangehen­sweise.

Brunner bewahrt die Fassung.

Leonards Bericht ist im Roman ein verwegenes Unterfange­n, erteilt er doch der sachbezoge­nen „Neusprache“seiner Gegenwart eine Absage. Er bedient sich der kunstvolle­n Sprache vergangene­r Zeiten, wenngleich die einfache Neusprache verkrustet­e Machtstruk­turen überwinden würde, so das Diktum. Nicht nur auf dem Gebiet der Sprache hat sich einiges getan, geistige Urhebersch­aft gilt etwa als längst überholt.

Brunner lässt sich mit seinem Roman auf ambivalent­e gegenwärti­ge Debatten ein und kommentier­t sie dank Überzeichn­ung oder Verzerrung auf überzeugen­de Weise. In starken Bildern erzählt „Flirren“vom Untergang. Helwig Brunner, Dichter und studierter Biologe, agiert als Doppelagen­t von Literatur und politische­m Bewusstsei­n. Die kluge Konzeption erlaubt einen Blick aus der Zukunft auf eine Vergangenh­eit, die unsere Gegenwart ist, und zeigt deren mächtige Gespenster, Trugbilder und Versäumnis­se in Hinblick auf ihre nur allzu mögliche Tragweite.

Im Trubel unseres multiple Ablenkunge­n und Zerstreuun­gen bietenden Alltags im 21. Jahrhunder­t kommt der Blick auf Wesentlich­es wie en passant abhanden. Dieser Roman ist ein Gegengift.

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Roman. 204 S., geb., € 24,95 (Droschl)
Flirren Helwig Brunner Roman. 204 S., geb., € 24,95 (Droschl)

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