Wandern und schauen, wer da oben wohnt
Glasklare Luft und Knirschen bei jedem Schritt. Der Nationalpark Hohe Tauern lässt sich gemeinsam mit Rangern besonders intensiv erleben. Denn sie wissen genau, wo man Wildtiere antrifft.
Da ist er – ständig vor uns. Und so anziehend, dass der Blick entweder nur auf ihn gerichtet ist oder nach unten, zu den Schneeschuhen, damit wir nicht verkanten. Der Gloßglockner steht so souverän inmitten der Bergkulisse des Hochtals hinter der Kalser Glocknerstraße, dass wir gar nicht nach den Big Five Ausschau halten. Eva Oberhauser, gebürtige Kalserin und Bergwanderführerin mit jahrzehntelanger Erfahrung im Gebiet, hebt die Hand. Stopp! Sie reicht ihr Fernglas. „Schaut’s mal da oben auf dem Plateau – das ist eine Teeniegruppe junger Steinböcke in der Sonne.“Puuuh, vor lauter Glockner-Faszination und perfekter Tarnung der Tiere zwischen Felsen und Schnee hätten wir sie niemals bemerkt.
„Im Schnee hebt sich das Fell des Steinwilds besser vom Hintergrund ab, es ist einfacher zu entdecken als im Sommer und Herbst“, erklärt Eva. Außerdem ist es im Winter auch in tieferen Lagen unterwegs. Nicht alle fünf der typischen Bewohner des Nationalparks Hohe Tauern sind saisonbedingt im Winter anzutreffen. Das Murmeltier zum Beispiel hält Winterschlaf. „Neben Steinbock und Murmeltier sind ganz typisch Steinadler, Bartgeier und Gämse“, zählt Eva auf.
Glocknerspur im Ködnitztal
Wir stapfen weiter. Schneeschuhe sind perfekt, um sich in diesem späten Winter im Ködnitztal vom Parkplatz der Mautstraße auf den Weg Richtung Lucknerhütte (2241 m) am Fuße des Großglockners zu machen, umrahmt von den herrlichen Hohen Tauern, der Glocknergruppe (wieder geöffnet ab Anfang Juni). Eva hat inzwischen wieder die Steinböcke im Auge und entdeckt eine Gruppe älterer Tiere. „Die Gruppen messen sich immer wieder in Kämpfen, sie stoßen sich sprichwörtlich dabei die Hörner ab.“Lange ausgerottet, kehrte der Alpensteinbock 1960 erst durch Wiederansiedlungsprojekte in diesen Lebensraum zurück: der König und sein Thron.
Um ihn zu sichten, muss man nur der „Glocknerspur“folgen, einem Themenweg, der diese urtümliche Hochgebirgslandschaft in zwölf Stationen erklärt, die vom ewigen Eis über schroffe Kämme und Grate bis zu sanften Almwiesen und lichten Bergwäldern reicht. Die Stille hören. Pause machen. Durchschnaufen. Weil es so viel zu sehen gibt am Talende, stehen weniger das Wandern und Kilometeroder Höhenmeter-Machen im Vordergrund, sondern das Schauen,
Staunen, Beobachten. „Denn in den Höhen der Berge entleert sich die Seele von der Hektik des Alltags“, heißt es auf dem Themenweg. Ein tiefer Atemzug, ein Nicken – und wie! Auch hier oben ist die Natur für Überraschungen gut: Es gibt hier oben sogar ein weißes Reh! Wer geduldig ist, hat vielleicht Glück und entdeckt es. „Schneehühner und Schneehasen sind hier ebenso unterwegs“, sagt Eva. Das Ködnitztal ist ein Wildtiertal und die Chance, einige davon anzutreffen, ist mit erfahrenen Nationalpark-Rangern oder Bergwanderführern groß.
„Es ist immer das Einfache, das Natürliche so atemberaubend, dass uns die Worte fehlen.“So formulieren die Natur- und Gastfreunde Katharina und Bernd Hradecky die Philosophie ihres Hotels Hinteregger in Matrei in Osttirol, einer guten Basis für Bergweltausflüge. Der Hinteregger Kogel, ein markanter Gipfel oberhalb von Matrei, ist namensgebender Hausberg. Und dort oben haben die Vorfahren von Gastgeberin Katharina bis zum 16. Jahrhundert eine Alm bewirtschaftet. „Das heutige Hotel hat meine Urgroßmutter 1903 erworben, knapp 80 Jahre vor der Gründung des Nationalparks.“Manches ist anders, vieles erhalten: Das Haus wird – mittlerweile in vierter Generation – von einer Frau geführt. Wo es zu Beginn des 20. Jahrhunderts lediglich ein „schönes Zimmer“und Strohsäcke als Beherbergung zu mieten gab, erwarten den Gast heute verschiedene, moderne Zimmer. Die Verwandlung durch Architekten ist eine Erfolgsgeschichte für das Haus im Ortszentrum.
Im Seebachtal bei Mallnitz
Das Gefühl, wenn die Tradition auf das Moderne trifft, haben wir auch im Oberkärntner Landgut Moserhof in Penk – einem Mikrokosmos für sich direkt an der Möll. In 15. Generation leben, lieben und leiten Gerhild und Heinz Hartweger das Chaletdorf mit Holzhäusern samt Kachelofen, Schlafzimmer mit Panoramafenster und Sauna. Und haben immer Ideen im Kopf: Ein paar Meter über die hoteleigene Möllbrücke
und durch den eigenen Wald steht jetzt das Kleingut Moserhof. Ganz allein, ganz ruhig, mit Hühnern, Ziegen und Alpakas (auf Wunsch) und Badeteich. „Mit Ressourcen leidenschaftlich umzugehen ist unser Ziel“, betont Gerhild.
Tiere und Menschen waren und sind Teil des Nationalparks Hohe Tauern. Dort Bartgeier zu entdecken verdanken wir dem Tourguide Marco Schiefer. Im richtigen Moment hat er den sensiblen Vogel auf einer Tour durchs Seebachtal bei Mallnitz in Oberkärnten entdeckt. Sofort versuchen wir, ihn mit dem Fernglas zu erfassen. Und da: Majestätisch und souverän segelt er an der Felswand entlang und verschwindet wieder in den Bäumen. Dass Bartgeier Knochenfresser sind, erklärte Marco zuvor im Nationalparkzentrum in Mallnitz. Bis zu 25 Zentimeter lange Knochen nutzen sie dank starker Magensäure als Nahrung. „Als Aasfresser sucht er Fallwild und verwertet die übrig bleibenden Knochen. Sind sie zu groß, wirft er sie aus großer Höhe ab, bis sie auf ein passendes Maß zerkleinert sind.“
Bartgeier in steilen Flanken
Die flache Runde durch das Seebachtal ist eine zeitgeschichtliche Reise, denn die Gletscher von einst haben dieses typische Trogtal mit flachem Talboden – deshalb leicht zu begehen – und steil aufragenden Felswänden geformt. In diesen Wänden legen Bartgeier in der Fortpflanzungszeit einen Horst an, ein Nest. Die Brutpflege ist genau getaktet: „Ziemlich genau alle 70 Minuten wechselt das Paar sich damit ab.“Nach rund 55 Tagen schlüpft das Jungtier. So einfach ist es jedoch oft nicht, erklärt Marco. „Bartgeier reagieren sehr empfindlich auf Störungen von außen, und schnell verlässt das Elternpaar dann den Horst und das Jungtier.“
Der Spagat zwischen Naturund Kulturlandschaft, zwischen Schutzgebiet und menschlich genutzten Bereichen, ist und bleibt das Anliegen des Nationalparks Hohe Tauern. Wie das gelingt, zeigt eine Führung durch das Bios-Nationalparkzentrum in Mallnitz, ein idealer Einstieg. In „Rangerlabs“, Forscherwerkstätten für Kinder, heißt es „von der Natur lernen“. Und ganz ehrlich: Das so aufbereitete Wissen zu Klima, Kräutern und der Inspiration Natur macht auch uns große Freude. „Draußen“kommt so nach drinnen – und mit bewusster Wahrnehmung geht es dann wieder raus. Angreifen und begreifen. Und sich beim Wandern überraschen lassen. Denn es besteht die Chance, den im Seebachtal geschlüpften Junggeier zu sichten.