Wandeln unter einem Toblerone-Gipfel
Einst über Jahrhunderte abgeschieden und ohne Zugang, fließen nun Milch und Elektrizität ins Tal, sprudelt reich das Mineralwasser und bringt eine Therme Architekturreisende nach Vals in Graubünden.
Eine Eiszapfenfelswand, schau nur, da oben! Weiter aufsteigend durch den Schnee öffnet sich das Bild ins Grünblau, Wasser, zum Stillleben gefroren: Klirrend hell das Türkis! Darüber liegen alle Farben von Winterblau. Die dicke Eisschicht kratzt an schroffen Felswänden.
Grönland, würde man meinen, oder die eisigen Weiten hoch oben im Norden Norwegens, die Fjorde von Narvik oder Tromsø. Weder noch und nein. Der mittig sitzende Gipfel des Bergpanoramas gibt einen Hinweis, einen süßen: Er ragt in der Form eines Toblerone-Gipfels in den klaren Winterhimmel. Hier oben erstreckt sich Graubünden als alpines Gipfelland, erheben sich Fanellhorn und Frunthorn auf mehr als dreitausend Metern und das Rheinwaldhorn als höchste Spitze der Adula-Gruppe.
Überirdisch schön ist der Anblick. Und der Pyramidengipfel mittig vor uns ist das Zervreilahorn, von den Einheimischen wie der Reiseliteratur Bündner Matterhorn genannt. Darunter spiegeln sich die Bergmassive auf dem zugefrorenen Zervreilasee. Der See trägt den Namen des Dorfs, das unterging, als er 1957 aufgestaut wurde.
Strom vom Zervreila
Es kracht im Eis, tief und naturgewaltig. Grollend werfen die Felswände das Echo zurück auf den gefrorenen Grund, wo die rumpelnden Töne immer weiter tanzen, bis an das nicht sichtbare Ende der Eisdecke. Der See streckt sich ganz schön lang, wie ein dicker Pottwal. Von Kopf bis Schwanzflosse misst er vier Kilometer und fasst dabei über 100 Millionen Kubikmeter Wasser. Eine gigantische Bogengewichtsmauer von einem halben Kilometer hält den See zurück. Auf der Kronenlänge kann man bis auf die andere Seite hinüberspazieren.
Unten, im Felseinschnitt, da liegt der Ort Vals, fast winzig wirkend. Der Zervreila hier oben macht da unten im Tal die Häuser warm. Die Gemeinde Vals bezieht ihre Elektrizität vom Stausee; sie hält selbst Aktien am Kraftwerk.
Von der Staumauer absteigend geht’s wieder zurück auf den Weg bis zur oberen Busstation. Aus dem kleinen Gemeindebus steigen gerade ein paar Skifahrer aus. Mit uns will auch eine Rodelfamilie wieder retour ins Tal. Abfahrt! Eiszapfenwände gehen über in verschneite Nadelwaldhänge. Das Radio jodelt fröhlich in Schwyzerdütsch. Kurz vor dem Ort bremst der Bus. Ein Tunnel.
Einspuriger Tunnel
Das rote Licht am Eingang verlangt zu warten. Das kann bis zu zwanzig Minuten dauern, informiert das Schild daneben. Aus der Röhre kann jeder Art Gegenverkehr kommen. Winterwanderer oder Waldarbeiter, ein Schlittengeschwader oder vielleicht ein Hirsch? Aus dem Tunnel kommt ein Wandersmann, klack-klack tönen seine Wanderstöcke. Die rote Ampel wechselt auf Grün, und nun fahren wir in die Felsröhre ein. Über einen Kilometer geht es darin bergab. Als sich die Röhre ins Licht öffnet, kommen bald die ersten Häuser von Vals in den Blick.
Der knapp unter tausend Einwohner zählende Ort wird von zwei Schluchten von der Außenwelt abgeschnitten. Nur eine Straße am Berghang führt ins Tal. Vals wirkt beschaulich und ruhig. Um den Dorfplatz liegen ein paar Holzgehöfte verstreut. Das Hausnummer 136 weist das älteste Haus von 1658 aus. „Wir sind Nachkommen von Oberwallisern, die ab dem 13. Jahrhundert in die höchstgelegenen Täler Graubündens eingewandert sind“, erzählt Phillipp Vieli, den wir am Dorfplatz treffen. „Unsere Vorfahren, zuvor ausgewandert nach Italien, kamen zurück“, schildert er, „es war ihnen dort wohl zu flach.“
Man muss wissen: Vals liegt hoch oben, auf einer Seehöhe von 1250 Metern. Eine deutsche Sprachinsel mitten in der rätoromanischen Val Lumnezia: „Wir Walser betrieben Selbstversorgung. Damals musste man mit Maultieren fünf Stunden über den Berg wandern, nur um das Nötigste zu holen.“Ohne einen Zugang ins Tal machte sich wohl auch die Reformation nicht auf den mühsamen Weg, damit blieb Vals katholisch. Bis 1870 herrschte sogar ein Heiratsverbot für bestimmte Gruppen. „Es war tabu, dass ein Rätoromane bei uns Walsern einheiratete“, und er fügt an: wegen des Erbes. „Wir sind lang unter uns gewesen, noch bis 1883.“Dann aber wurde die Straße gebaut.
Architektur-Oberliga
Heute ist der winzig wirkende Ort in Fläche gerechnet ein riesiger: Die Gemeinde ist so groß wie ein Graubünden naheliegendes Fürstentum. Und wie im reichen Liechtenstein fließen nun auch in Vals sprichwörtlich Milch und Honig ins Tal – die Milch tatsächlich von der Alp durch ein Rohr in zwanzig Minuten direkt in die Käserei. Dazu
füllt das Valser, der Schweiz bekanntestes Mineralwasser, den Gemeindetopf. Und den redensartlichen Honig bringt der Tourismus durch die hochgelegenen Skigebiete, die hinten im Ort beginnen, wo keine Straße mehr weiterführt und bis auf den 2900 Meter hohen Dachberg reichen. Dazu locken die herrlichen Panoramawege hinauf nach Gadastatt, Leis oder bis zum Zervreila.
Noch mehr kostbares Gold sprudelt in Vals: Hier steht eine Therme von Weltruf. Spektakulär in den Berg gesetzt wurde sie vom Schweizer Architekten Peter Zumthor. Dazu kamen weitere Architekten von Weltrang nach Vals, um zu planen und zu bauen: Tadao Ando, ebenso wie Zumthor Träger des
Pritzker-Preises, brachte etwa Teehaus-Ästhetik in die Bündner Abgeschiedenheit, und Kengo Kuma, der Japans Pavillon für Venedigs Biennale gestaltete oder das Olympiastadion in Tokio plante, designte für das Thermenhotel Zimmer zu Eichenholzkokons. Diese Architektur bringt die Welt in das Tal. Wobei das Wasser der Thermalquelle, der St. Peterquelle, selbst berühmt ist: Es ist bereits zum Verkosten zur Weltausstellung 1873 nach Wien gereist.
Zum Finale Käsefondue
Das Authentische liegt so nah. Winterwandert man die Hänge hinauf, nach Leis, überrascht der kleine Weiler mit seinen urigen Häusern und dem weiten Blick auf Vals. Wer mag, nimmt die Gondelbahn hinauf. Wie der Weg zu Fuß ist auch die bequeme Fahrt kostenfrei.
Oben heizt man beim Wirt schon den Ofen an. Claudio hat das Beste aus zwei Berufen gemacht, aus dem Käser und aus dem Koch, und serviert Valser Käsefondue, mit Speck, Pilzen und Büdner Fleisch zum Eintauchen. Dampfend noch kommt es auf den gedeckten Tisch. Die Völlerei beschließt ein süßer Ganni-Coup mit einem Schokoladeneisgupf – aufragend wie der Toblerone-Gipfel hoch über dem gefrorenen Zervreilasee.