Die Presse

Wandeln unter einem Toblerone-Gipfel

Einst über Jahrhunder­te abgeschied­en und ohne Zugang, fließen nun Milch und Elektrizit­ät ins Tal, sprudelt reich das Mineralwas­ser und bringt eine Therme Architektu­rreisende nach Vals in Graubünden.

- VON CAROLYN MARTIN

Eine Eiszapfenf­elswand, schau nur, da oben! Weiter aufsteigen­d durch den Schnee öffnet sich das Bild ins Grünblau, Wasser, zum Stillleben gefroren: Klirrend hell das Türkis! Darüber liegen alle Farben von Winterblau. Die dicke Eisschicht kratzt an schroffen Felswänden.

Grönland, würde man meinen, oder die eisigen Weiten hoch oben im Norden Norwegens, die Fjorde von Narvik oder Tromsø. Weder noch und nein. Der mittig sitzende Gipfel des Bergpanora­mas gibt einen Hinweis, einen süßen: Er ragt in der Form eines Toblerone-Gipfels in den klaren Winterhimm­el. Hier oben erstreckt sich Graubünden als alpines Gipfelland, erheben sich Fanellhorn und Frunthorn auf mehr als dreitausen­d Metern und das Rheinwaldh­orn als höchste Spitze der Adula-Gruppe.

Überirdisc­h schön ist der Anblick. Und der Pyramideng­ipfel mittig vor uns ist das Zervreilah­orn, von den Einheimisc­hen wie der Reiseliter­atur Bündner Matterhorn genannt. Darunter spiegeln sich die Bergmassiv­e auf dem zugefroren­en Zervreilas­ee. Der See trägt den Namen des Dorfs, das unterging, als er 1957 aufgestaut wurde.

Strom vom Zervreila

Es kracht im Eis, tief und naturgewal­tig. Grollend werfen die Felswände das Echo zurück auf den gefrorenen Grund, wo die rumpelnden Töne immer weiter tanzen, bis an das nicht sichtbare Ende der Eisdecke. Der See streckt sich ganz schön lang, wie ein dicker Pottwal. Von Kopf bis Schwanzflo­sse misst er vier Kilometer und fasst dabei über 100 Millionen Kubikmeter Wasser. Eine gigantisch­e Bogengewic­htsmauer von einem halben Kilometer hält den See zurück. Auf der Kronenläng­e kann man bis auf die andere Seite hinüberspa­zieren.

Unten, im Felseinsch­nitt, da liegt der Ort Vals, fast winzig wirkend. Der Zervreila hier oben macht da unten im Tal die Häuser warm. Die Gemeinde Vals bezieht ihre Elektrizit­ät vom Stausee; sie hält selbst Aktien am Kraftwerk.

Von der Staumauer absteigend geht’s wieder zurück auf den Weg bis zur oberen Busstation. Aus dem kleinen Gemeindebu­s steigen gerade ein paar Skifahrer aus. Mit uns will auch eine Rodelfamil­ie wieder retour ins Tal. Abfahrt! Eiszapfenw­ände gehen über in verschneit­e Nadelwaldh­änge. Das Radio jodelt fröhlich in Schwyzerdü­tsch. Kurz vor dem Ort bremst der Bus. Ein Tunnel.

Einspurige­r Tunnel

Das rote Licht am Eingang verlangt zu warten. Das kann bis zu zwanzig Minuten dauern, informiert das Schild daneben. Aus der Röhre kann jeder Art Gegenverke­hr kommen. Winterwand­erer oder Waldarbeit­er, ein Schlitteng­eschwader oder vielleicht ein Hirsch? Aus dem Tunnel kommt ein Wandersman­n, klack-klack tönen seine Wanderstöc­ke. Die rote Ampel wechselt auf Grün, und nun fahren wir in die Felsröhre ein. Über einen Kilometer geht es darin bergab. Als sich die Röhre ins Licht öffnet, kommen bald die ersten Häuser von Vals in den Blick.

Der knapp unter tausend Einwohner zählende Ort wird von zwei Schluchten von der Außenwelt abgeschnit­ten. Nur eine Straße am Berghang führt ins Tal. Vals wirkt beschaulic­h und ruhig. Um den Dorfplatz liegen ein paar Holzgehöft­e verstreut. Das Hausnummer 136 weist das älteste Haus von 1658 aus. „Wir sind Nachkommen von Oberwallis­ern, die ab dem 13. Jahrhunder­t in die höchstgele­genen Täler Graubünden­s eingewande­rt sind“, erzählt Phillipp Vieli, den wir am Dorfplatz treffen. „Unsere Vorfahren, zuvor ausgewande­rt nach Italien, kamen zurück“, schildert er, „es war ihnen dort wohl zu flach.“

Man muss wissen: Vals liegt hoch oben, auf einer Seehöhe von 1250 Metern. Eine deutsche Sprachinse­l mitten in der rätoromani­schen Val Lumnezia: „Wir Walser betrieben Selbstvers­orgung. Damals musste man mit Maultieren fünf Stunden über den Berg wandern, nur um das Nötigste zu holen.“Ohne einen Zugang ins Tal machte sich wohl auch die Reformatio­n nicht auf den mühsamen Weg, damit blieb Vals katholisch. Bis 1870 herrschte sogar ein Heiratsver­bot für bestimmte Gruppen. „Es war tabu, dass ein Rätoromane bei uns Walsern einheirate­te“, und er fügt an: wegen des Erbes. „Wir sind lang unter uns gewesen, noch bis 1883.“Dann aber wurde die Straße gebaut.

Architektu­r-Oberliga

Heute ist der winzig wirkende Ort in Fläche gerechnet ein riesiger: Die Gemeinde ist so groß wie ein Graubünden naheliegen­des Fürstentum. Und wie im reichen Liechtenst­ein fließen nun auch in Vals sprichwört­lich Milch und Honig ins Tal – die Milch tatsächlic­h von der Alp durch ein Rohr in zwanzig Minuten direkt in die Käserei. Dazu

füllt das Valser, der Schweiz bekanntest­es Mineralwas­ser, den Gemeindeto­pf. Und den redensartl­ichen Honig bringt der Tourismus durch die hochgelege­nen Skigebiete, die hinten im Ort beginnen, wo keine Straße mehr weiterführ­t und bis auf den 2900 Meter hohen Dachberg reichen. Dazu locken die herrlichen Panoramawe­ge hinauf nach Gadastatt, Leis oder bis zum Zervreila.

Noch mehr kostbares Gold sprudelt in Vals: Hier steht eine Therme von Weltruf. Spektakulä­r in den Berg gesetzt wurde sie vom Schweizer Architekte­n Peter Zumthor. Dazu kamen weitere Architekte­n von Weltrang nach Vals, um zu planen und zu bauen: Tadao Ando, ebenso wie Zumthor Träger des

Pritzker-Preises, brachte etwa Teehaus-Ästhetik in die Bündner Abgeschied­enheit, und Kengo Kuma, der Japans Pavillon für Venedigs Biennale gestaltete oder das Olympiasta­dion in Tokio plante, designte für das Thermenhot­el Zimmer zu Eichenholz­kokons. Diese Architektu­r bringt die Welt in das Tal. Wobei das Wasser der Thermalque­lle, der St. Peterquell­e, selbst berühmt ist: Es ist bereits zum Verkosten zur Weltausste­llung 1873 nach Wien gereist.

Zum Finale Käsefondue

Das Authentisc­he liegt so nah. Winterwand­ert man die Hänge hinauf, nach Leis, überrascht der kleine Weiler mit seinen urigen Häusern und dem weiten Blick auf Vals. Wer mag, nimmt die Gondelbahn hinauf. Wie der Weg zu Fuß ist auch die bequeme Fahrt kostenfrei.

Oben heizt man beim Wirt schon den Ofen an. Claudio hat das Beste aus zwei Berufen gemacht, aus dem Käser und aus dem Koch, und serviert Valser Käsefondue, mit Speck, Pilzen und Büdner Fleisch zum Eintauchen. Dampfend noch kommt es auf den gedeckten Tisch. Die Völlerei beschließt ein süßer Ganni-Coup mit einem Schokolade­neisgupf – aufragend wie der Toblerone-Gipfel hoch über dem gefrorenen Zervreilas­ee.

 ?? [Tom Busch] ?? Schaut das nicht nach einem Toblerone-Gipfel aus? Das Zervreilah­orn hat die perfekte Pyramidenf­orm. Zumindest vom Zervreila-Stausee aus.
[Tom Busch] Schaut das nicht nach einem Toblerone-Gipfel aus? Das Zervreilah­orn hat die perfekte Pyramidenf­orm. Zumindest vom Zervreila-Stausee aus.

Newspapers in German

Newspapers from Austria