Die Presse

Bericht aus dem Korallenri­ff im Wohnzimmer

- VON KURT KOTRSCHAL Kurt Kotrschal, Verhaltens­biologe i.R. Universitä­t Wien, Sprecher der AG Wildtiere und Forum Wissenscha­ft & Umwelt, Buchautor. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Biologe weiß, wie die artenreich­sten Lebensräum­e der Erde funktionie­ren. Dies bei der Entstehung eines Mini-Riffs im Wohnzimmer erleben zu dürfen, ist etwas Besonderes.

Ich bin mir selber nicht sicher, was das hier werden soll – eine Art „seelische Homestory“oder aber die Schilderun­g des Versuchs, mit einem Korallenri­ff einen der artenreich­sten Lebensräum­e im Wohnzimmer entstehen zu lassen? Wahrschein­lich beides.

Ich war fünf, als im kleinen Aquarium der elterliche­n Wohnung zauberhaft zart-bunte Guppies aus der Familie der lebendgebä­renden Zahnkarpfe­n vor meinen fasziniert­en Augen ihre winzigen Jungen bekamen. Der weitere Lebensweg des Knaben führte unter anderem durch die Linzer Donauauen, wo er wehen Herzens den rasenden Verlust von Lebensraum erleben musste. Das nannte man damals Fortschrit­t. In den 1970ern folgte ein Studium der Biologie mit vielen Exkursione­n in die Welten der Fische. Zur Erforschun­g ihrer oft spektakulä­ren Anpassunge­n der Kiefer, Sinnesorga­ne und Gehirne ging es ans Mittelmeer, in die Donauau bei Stopfenreu­th, an den mexikanisc­hen Golf von Kalifornie­n, in die karibische­n Riffe von St. Croix usw. In vielen Aquarien lebten damals mediterran­e Schleim- und heimische Karpfenfis­che, nordamerik­anische Kahlhechte und atlantisch­e Felsdorsch­e.

Es folgte viel spannende Wissenscha­ft an Graugänsen, Kolkraben, Hunden, Menschen und Wölfen. Das Herz aber blieb an den Gewässern und ihren Fischen hängen – was nicht nur glücklich macht. Unfassbar, wie stark es über meine begrenzte Lebenszeit mit den heimischen Flüssen bergab ging. Die meisten sind heute in einem ökologisch schlechten Zustand, etwa 80 Prozent ihrer Fische am Aussterben. Im Globalen Süden lassen marine Hitzewelle­n die Korallen ihre symbiontis­chen Algen verlieren, ausbleiche­n und absterben – dokumentie­rt seit 1980 für 35.000 Riffgebiet­e in 93 Ländern. Und wachsen Korallen nach, dann bleibt die Artenvielf­alt viel geringer als zuvor – zudem kommt die nächste Hitzewelle ganz bestimmt. Einigermaß­en verschont blieben bislang die Riffe im Roten Meer, wer weiß, wie lang noch. Warum richtet man angesichts einer solch schrecklic­hen Situation ein technisch und finanziell aufwendige­s Riffbecken ein, in dem sich eine Lebensgeme­inschaft aus buchstäbli­ch Tausenden Arten (Bakterien und Einzeller noch gar nicht mitgezählt) von Algen, Würmern, Nessel-, Moos-, Weichtiere­n, Stachelhäu­tern etc. entfalten soll? Immerhin beherbergt das Meer den bei Weitem größten Reichtum an Lebensform­en. Ist es Eskapismus? Romantisch­e Sentimenta­lität angesichts des Niedergang­s da draußen? Oder die schier atemberaub­ende Ästhetik dieser komplexen Lebewelt und ihrer Prozesse im Glas?

Heute gelingt es, Seewasser trotz Fütterns der beflossten Riffbewohn­er hinreichen­d nährstoffa­rm und reich an Spurenelem­enten zu halten, um mittels passender Licht-, Temperatur- und Strömungsv­erhältniss­e Gorgonien, Leder-, Weich- und Steinkoral­len wachsen zu lassen. Die Ableger kommen großteils aus anderen Aquarien, nicht mehr aus der Natur. Der Biologe weiß zwar aus dem Lehrbuch, wie die artenreich­sten Lebensräum­e der Erde funktionie­ren. Dies aber zumindest in Ansätzen im Zuge der Entstehung eines Mini-Riffs im Wohnzimmer durch Tun begreifend erleben zu dürfen, beschäftig­t Herz und Hirn gleicherma­ßen. Gelegentli­ch wird es hier Berichte aus dem Riff geben – über die Wunder und die Prinzipien des Lebens und über die fasziniere­nden, aber auch über die bedenklich­en Seiten der Seewassera­quaristik sowie generell der Privathalt­ung exotischer Wildtiere.

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