Bericht aus dem Korallenriff im Wohnzimmer
Der Biologe weiß, wie die artenreichsten Lebensräume der Erde funktionieren. Dies bei der Entstehung eines Mini-Riffs im Wohnzimmer erleben zu dürfen, ist etwas Besonderes.
Ich bin mir selber nicht sicher, was das hier werden soll – eine Art „seelische Homestory“oder aber die Schilderung des Versuchs, mit einem Korallenriff einen der artenreichsten Lebensräume im Wohnzimmer entstehen zu lassen? Wahrscheinlich beides.
Ich war fünf, als im kleinen Aquarium der elterlichen Wohnung zauberhaft zart-bunte Guppies aus der Familie der lebendgebärenden Zahnkarpfen vor meinen faszinierten Augen ihre winzigen Jungen bekamen. Der weitere Lebensweg des Knaben führte unter anderem durch die Linzer Donauauen, wo er wehen Herzens den rasenden Verlust von Lebensraum erleben musste. Das nannte man damals Fortschritt. In den 1970ern folgte ein Studium der Biologie mit vielen Exkursionen in die Welten der Fische. Zur Erforschung ihrer oft spektakulären Anpassungen der Kiefer, Sinnesorgane und Gehirne ging es ans Mittelmeer, in die Donauau bei Stopfenreuth, an den mexikanischen Golf von Kalifornien, in die karibischen Riffe von St. Croix usw. In vielen Aquarien lebten damals mediterrane Schleim- und heimische Karpfenfische, nordamerikanische Kahlhechte und atlantische Felsdorsche.
Es folgte viel spannende Wissenschaft an Graugänsen, Kolkraben, Hunden, Menschen und Wölfen. Das Herz aber blieb an den Gewässern und ihren Fischen hängen – was nicht nur glücklich macht. Unfassbar, wie stark es über meine begrenzte Lebenszeit mit den heimischen Flüssen bergab ging. Die meisten sind heute in einem ökologisch schlechten Zustand, etwa 80 Prozent ihrer Fische am Aussterben. Im Globalen Süden lassen marine Hitzewellen die Korallen ihre symbiontischen Algen verlieren, ausbleichen und absterben – dokumentiert seit 1980 für 35.000 Riffgebiete in 93 Ländern. Und wachsen Korallen nach, dann bleibt die Artenvielfalt viel geringer als zuvor – zudem kommt die nächste Hitzewelle ganz bestimmt. Einigermaßen verschont blieben bislang die Riffe im Roten Meer, wer weiß, wie lang noch. Warum richtet man angesichts einer solch schrecklichen Situation ein technisch und finanziell aufwendiges Riffbecken ein, in dem sich eine Lebensgemeinschaft aus buchstäblich Tausenden Arten (Bakterien und Einzeller noch gar nicht mitgezählt) von Algen, Würmern, Nessel-, Moos-, Weichtieren, Stachelhäutern etc. entfalten soll? Immerhin beherbergt das Meer den bei Weitem größten Reichtum an Lebensformen. Ist es Eskapismus? Romantische Sentimentalität angesichts des Niedergangs da draußen? Oder die schier atemberaubende Ästhetik dieser komplexen Lebewelt und ihrer Prozesse im Glas?
Heute gelingt es, Seewasser trotz Fütterns der beflossten Riffbewohner hinreichend nährstoffarm und reich an Spurenelementen zu halten, um mittels passender Licht-, Temperatur- und Strömungsverhältnisse Gorgonien, Leder-, Weich- und Steinkorallen wachsen zu lassen. Die Ableger kommen großteils aus anderen Aquarien, nicht mehr aus der Natur. Der Biologe weiß zwar aus dem Lehrbuch, wie die artenreichsten Lebensräume der Erde funktionieren. Dies aber zumindest in Ansätzen im Zuge der Entstehung eines Mini-Riffs im Wohnzimmer durch Tun begreifend erleben zu dürfen, beschäftigt Herz und Hirn gleichermaßen. Gelegentlich wird es hier Berichte aus dem Riff geben – über die Wunder und die Prinzipien des Lebens und über die faszinierenden, aber auch über die bedenklichen Seiten der Seewasseraquaristik sowie generell der Privathaltung exotischer Wildtiere.