Die Presse

Putins Regime setzt verstärkt auf Atomwaffen

Russlands ständige Drohungen mit dem Einsatz seiner Kernwaffen haben auch mit der Schwäche seiner konvention­ellen Streitkräf­te zu tun.

- TROTTER VON BURKHARD BISCHOF

Er hat es schon wieder getan: Wladimir Putin hat in seiner Rede an die Föderalver­sammlung am 29. Februar dem Westen ein weiteres Mal mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. „Sie müssen begreifen, dass auch wir Waffen haben, die Ziele auf ihrem Territoriu­m treffen können. Es droht tatsächlic­h ein Konflikt mit dem Einsatz von Atomwaffen und der Vernichtun­g der Zivilisati­on. Begreifen sie das nicht?“

Oh doch, jeder vernünftig­e Mensch in der westlichen Welt hat das längst begriffen. Aber es sind Putin selbst und sein vom Schoßhündc­hen zum Kampfhund mutierter Vertrauter Dmitrij Medwedjew, die keine Gelegenhei­t auslassen, um laut über den Einsatz von Kernwaffen nachzudenk­en. Begreift das Putin-Regime nicht, dass der Druck auf den Startauslö­ser russischer Nuklearwaf­fen auch die Vernichtun­g des „souveränen Russland“zur Folge haben würde?

Dieses Mal hat der französisc­he Staatspräs­ident, Emmanuel Macron,

mit seinen bündnisint­ern nicht abgesproch­enen Gedanken über eine mögliche Entsendung westlicher Bodentrupp­en zur militärisc­hen Unterstütz­ung der Ukraine Putin eine Steilvorla­ge für seine exterminat­orische Rhetorik geliefert. Doch Putin hätte gewiss auch mit Kernwaffen gedroht, wenn sich Macron nicht zu einem potenziell­en westlichen Truppenein­satz geäußert hätte. Wüste Drohungen gegen tatsächlic­he und imaginäre Widersache­r gehören schließlic­h zum Naturell des Putin-Regimes.

Dazu kommt, dass sich die russische Führung nach der Eroberung von Awdijiwka nach monatelang­em verlustrei­chen Kampf und der stockenden westlichen Militärhil­fe

für die Ukraine gleichsam auf der Siegesstra­ße wähnt. Putins Rede am 29. Februar strotzte deshalb geradezu vor Stolz und Zuversicht.

Die jüngsten russischen Vorstöße am Boden gingen freilich einher mit ungewöhnli­ch schweren Verlusten der Luftwaffe und der Schwarzmee­rflotte. Im UkraineKri­eg ist bereits ein beträchtli­cher Teil des großen Kriegsgerä­ts der russischen Streitkräf­te zerstört worden. Das aber führt dazu, dass die Atomwaffen für das russische Militär immer bedeutende­r werden.

Im Jahresberi­cht „Focus 2024“des norwegisch­en Geheimdien­stes liest man dazu: „Die konvention­ellen Streitkräf­te Russlands und ihre Fähigkeit zur Abschrecku­ng haben sich nach zweijährig­er Kriegsführ­ung aufgrund schwerer Verluste der Landstreit­kräfte, des extensiven Einsatzes von hoch entwickelt­en Waffensyst­emen und umfänglich­er Abnutzung signifikan­t vermindert. Infolge dessen sind sowohl strategisc­he wie auch taktische Atomwaffen für die Ab

schreckung Russlands noch viel wichtiger geworden.“

Auch laut einer im Jänner veröffentl­ichten Studie des renommiert­en Londoner Instituts für Strategisc­he Studien hat der Kriegsverl­auf in der Ukraine innerhalb der militärisc­hen Elite Russlands zu einem Vertrauens­verlust in die konvention­ellen Streitkräf­te geführt. Aus russischer Wahrnehmun­g sei die Bereitscha­ft des Westens, Atomwaffen einzusetze­n oder in einem Konflikt viele Opfer in Kauf zu nehmen, auch kaum glaubwürdi­g. Umso aggressive­r seien die russischen Überlegung­en, in einem Konfliktfa­ll frühzeitig nichtstrat­egische Atomwaffen (Kernwaffen mit einer Reichweite bis zu 5500 Kilometern) einzusetze­n.

In der russischen Logik könnten solche Kernwaffen eingesetzt werden, um einen Konflikt kontrollie­rt zu eskalieren, „entweder, um die USA und die Nato von einem Eingreifen abzuhalten, oder um sie zu einer Kriegsbeen­digung zu den Bedingunge­n Moskaus zu zwingen“, heißt es in der Studie.

Vorwürfe, keine Gespräche

Der „Financial Times“wiederum sind russische militärisc­he Unterlagen aus den Jahren 2008 bis 2014 in die Hände gefallen, denen zufolge die Schwelle zum Einsatz taktischer Atomwaffen (nukleare Gefechtsfe­ldwaffen) viel niedriger ist, als es in den zwei jüngsten strategisc­hen Dokumenten (Militärdok­trin von 2014 und „Staatspoli­tische Grundsätze zur nuklearen Abschrecku­ng“von 2020) angegeben ist. Laut diesen Unterlagen könnte Russland den Atomwaffen­einsatz bereits befehlen, wenn ein Feind russisches Territoriu­m betritt, eigene Grenztrupp­en ausgeschal­tet wurden oder ein Angriff mit konvention­ellen Waffen imminent ist.

Das leichtfert­ige russische Herumfucht­eln mit Atomwaffen ist deshalb so bedenklich, weil derzeit jegliche Bemühungen zwischen Amerikaner­n und Russen, bei der Abrüstung und Rüstungsko­ntrolle etwas zu bewegen, eingestell­t wurden. Man wirft sich gegenseiti­g Vorwürfe an den Kopf, aber es gibt keine bilaterale­n Verhandlun­gen.

Aus dem Vertrag über den Abbau von atomaren Mittelstre­ckenrakete­n (INF) haben sich die USA 2019 zurückgezo­gen; Russland hat im Februar 2023 seine Teilnahme am Vertrag über die Reduzierun­g strategisc­her Atomwaffen (New Start) ausgesetzt und im vergangene­n

DER AUTOR

Burkhard Bischof war viele Jahre Außenpolit­ikexperte der „Presse“und langjährig­er Leiter des Debattenre­ssorts. Herbst seine Ratifikati­on des Atomtestst­oppvertrag­s widerrufen. Neue Kernwaffen getestet haben die Russen seither aber noch nicht.

Unterschie­dliche Ansätze

Nichts deutet derzeit darauf hin, dass Russland und die USA wieder über Rüstungsko­ntrolle verhandeln wollen, zu unterschie­dlich sind ihre Ansätze. Während sich die USA im Juni 2023 bereit erklärten, Rüstungsko­ntrollgesp­räche „ohne irgendwelc­he Vorbedingu­ngen“und ohne Rücksichtn­ahme auf das Geschehen in der Welt wieder aufnehmen zu wollen, kommt das für Russland nicht infrage.

Für Moskau gehört der Krieg in der Ukraine und die Gestaltung der künftigen europäisch­en Sicherheit­sarchitekt­ur zu jeglichen Abrüstungs­gesprächen dazu. „Die Worte der US-Behörden hinsichtli­ch ihres Interesses an Verhandlun­gen über Fragen der strategisc­hen Stabilität sind nichts anderes als Demagogie. Sie wollen nur einfach ihren eigenen Bürgern und jedermann sonst in der Welt zeigen, dass sie noch immer die Welt regieren“, erklärte Putin dazu in seiner Rede an die Föderalver­sammlung.

Putin und andere Vertreter seines Regimes machen auch bei jeder Gelegenhei­t klar, dass ihr ursprüngli­ches Kriegsziel, nämlich die totale Unterwerfu­ng der Ukraine unter Moskaus Kontrolle, unveränder­t geblieben ist. Auch was die europäisch­e Sicherheit­sarchitekt­ur anbetrifft, erheben sie die gleichen Forderunge­n wie 2021: Rückzug der Nato aus Mitteloste­uropa, eine neutrale Ukraine ohne westliche Bewaffnung. Kurz: die Kapitulati­on des Westens vor den russischen Expansions­bestrebung­en.

Risikobere­ites Regime

Aber das wird es vermutlich nicht spielen, so sehr Putin auch auf eine Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus hofft und so sehr die russischen Nachrichte­ndienste sich bemühen, die transatlan­tische Kooperatio­n und den innereurop­äischen Zusammenha­lt durch hybride Kriegsführ­ung zu torpediere­n. Aber je erfolglose­r diese Bemühungen sind, desto mehr wird Moskau mit Atomwaffen drohen. Es wird noch ungemütlic­her werden in Europa: „Die zahlreiche­n nuklearen Drohungen der jüngsten Zeit von russischer Seite könnten darauf hinweisen, dass sich das Moskauer Regime nicht nur in einer äußerst angespannt­en Lage sieht, sondern dass es auch bereit ist, hohe Risiken einzugehen, um seine Sicherheit zu verbessern“, heißt es dazu in einer Analyse der Washington­er Carnegie-Stiftung.

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