Die Presse

„Xi will globale Vormachtst­ellung “

Der renommiert­e Historiker Steve Tsang erklärt, warum Chinas Staatschef, Xi Jinping, die Volksrepub­lik grundlegen­d umwälzt, mit langjährig­en Gesellscha­ftsverträg­en bricht und welche Ziele er dabei wirklich verfolgt.

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Peking. Der diesjährig­e Volkskongr­ess in Peking stand ganz im Zeichen des Machtausba­us Chinas – und seines Staatschef­s, Xi Jinping: Zum Abschluss der Tagung stimmte am Montag eine große Mehrheit der 2900 Delegierte­n für eine starke Erhöhung der Verteidigu­ngsausgabe­n um 7,2 Prozent auf umgerechne­t rund 214 Mrd. Euro. Zugleich verstärkte Xi seine Kontrolle auf den Staat: Ein neues Gesetz garantiert ihm nun noch mehr exekutive Kontrolle über das Kabinett, den Staatsrat. Dass die Abschlussk­onferenz erstmals seit Jahrzehnte­n abgesagt wurde, gilt als weiteres Zeichen für die zunehmend totalitäre Entwicklun­g Chinas.

Die Presse: Xi Jinping ist einer der mächtigste­n Politiker weltweit, aber erst jetzt – über zehn Jahre nach seinem Amtsantrit­t als Generalsek­retär der KP Chinas – gibt es eine unabhängig­e Buchpublik­ation über seine politische Ideologie. Warum?

Steve Tsang: Um die Gedankenle­hre Xis zu verstehen, muss man sämtliche seiner Reden und Schriften durchforst­en – das ist quälend langweilig und herausford­ernd. Aber es ist wichtig, deshalb haben wir es getan.

Selbst innerhalb Chinas gibt es kaum einen Experten, der Xis Lehre in verständli­chen Worten auf den Punkt bringen kann. Das erinnert an nordkorean­ische Propaganda: Diese ist über weite Strecken dazu gedacht, möglichst diffus zu sein – damit sie eben nicht konkret überprüfba­r ist.

Bei Xi Jinping ist dies nicht der Fall – im Gegenteil. Er will, dass man sich mit seiner Lehre auseinande­rsetzt und sie annimmt. Das Problem der unzähligen Institute und Forschungs­zentren in China ist, dass sie alle politisch korrekt sein müssen. Sie sind geradezu hagiografi­sche Studien. Unser Buch hingegen versucht in klaren Worten herauszuar­beiten, was die Bedeutung und die Folgen von Xi Jinpings Gedankenle­hre tatsächlic­h sind – mit all ihren Widersprüc­hlichkeite­n und Problemen. Wir haben keinen Gedanken darauf gegeben, ob es Xi Jinping gefallen würde oder nicht. In China könnte sich dies kein Forscher erlauben.

Welche biografisc­hen Ereignisse prägten Xis politische Bildung?

Der Kollaps der Sowjetunio­n und der Niedergang des Kommunismu­s in Osteuropa waren Ereignisse, die sehr großen Einfluss auf seine Denkweise hatten. Das Erste, was Xi 2012 nach seinem Amtsantrit­t sagte, war: Die große Tragödie der heroischen KPdSU sei es gewesen, dass – als Michail Gorbatscho­w die Ränge der Partei aufstieg – niemand der Kader mutig genug war, gegen den Verräter vorzugehen und ihn zu verhaften. Unter seiner Amtszeit würde ihm das nicht passieren. Das ist aber nur eine Dimension. Was am stärksten aus seiner Gedankenle­hre hervorgeht, ist das schiere Ausmaß seiner Ambition. Er versucht in keine Fußstapfen zu treten, sondern möchte ein transforma­tiver Führer sein, der China – gemäß Marx – zum Gelobten Land führt. Seine Idee, China wieder groß zu machen, der Traum der „chinesisch­en Verjüngung“, geht weit darüber hinaus, was sich Staatsgrün­der Mao Zedong in seinen wildesten Träumen ausgemalt hat.

Was meinen Sie damit?

Mao sprach auf dem Höhepunkt seiner Macht davon, dass China das Vereinigte Königreich übertreffe­n und dann versuchen würde, mit den USA gleichzuzi­ehen. Xi geht es nicht um die USA. Er will die Vormachtst­ellung in der Welt erlangen und China zu seiner wahren Größe führen.

Verlangt er dafür die totalitäre Teilnahme aller seiner Bürger? Oder kann man es sich im China unter Xi Jinping noch leisten, passiven Widerstand zu leisten?

China ist ein riesiges Land mit 1,4 Milliarden

Menschen. Selbst mit fast 100 Millionen KPMitglied­ern und all den digitalen Technologi­en, die ihr zur Verfügung stehen, ist es schwierig, alle auf Linie zu bringen. Es ist die Frage, wie lang Xi an der Macht bleibt. Je länger er an der Macht bleibt, desto eher wird er sein Ziel erreichen können. Diejenigen, die sich nicht an seine Lehre anpassen, werden im Gefängnis landen oder China verlassen. Aber so weit sind wir noch nicht.

Jahrzehnte­lang hat in China ein Gesellscha­ftsvertrag gegolten, der darauf beruht hat, dass die Bevölkerun­g im Gegenzug für wirtschaft­liche Verbesseru­ngen ihre politische­n Rechte an die Partei abtritt. Xi schrieb den Vertrag um.

Aus seiner Sicht hat er ihn verbessert. Es geht nicht mehr nur um eine hohe Wachstumsr­ate, sondern darum, dass die Menschen stolz darauf sind, Chinesen zu sein. Zudem will er die Wirtschaft an neue Technologi­en anpassen und die Kluft zwischen Superreich­en und Superarmen verringern. Aber hier müssen wir genau hinschauen: Xi Jinping versucht nicht wirklich, soziale Gerechtigk­eit im marxistisc­hen Sinn zu schaffen.

Tatsächlic­h spricht Xi offen aus, dass er einen Wohlfahrts­staat nach europäisch­em Vorbild ablehnt, weil er Arbeiter „faul“mache. Warum diese Ablehnung?

Xi Jinping ist nur dem Namen nach Marxist, in Wirklichke­it ist er durch und durch Leninist. Ein Marxist konzentrie­rt sich in erster Linie auf soziale Gerechtigk­eit und auf Umverteilu­ng. Einem Leninisten geht es vorrangig um Kontrolle. Daran ist Xi Jinping am meisten interessie­rt. Ihn interessie­rt nicht das Wohlergehe­n des Individuum­s, sondern das Wohl des Volks als Ganzen. Ein Volk, das von der Partei vertreten wird.

Welche Rolle spielen Privatunte­rnehmen?

Xi Jinping ist nicht per se gegen Privatunte­rnehmen, solang sie patriotisc­h sind – also mit den chinesisch­en Traditione­n, wie Xi sie definiert, übereinsti­mmen und der Kommunisti­schen Partei und ihrem obersten Führer gegenüber loyal sind. Private Unternehme­n, die all diese Kriterien erfüllen, sind also in Ordnung – das sieht man am Beispiel von Huawei. Jedoch vor die Wahl gestellt zwischen Privatunte­rnehmen und Staatsunte­rnehmen, zieht Xi stets Letztere als Stütze der chinesisch­en Wirtschaft vor.

Sie argumentie­ren, dass Xi auch Außenpolit­ik unter dem Aspekt betrachtet, ob sie der Partei nützt. Möchte er die westliche Weltordnun­g stürzen?

Da müssen wir klar unterschei­den: China möchte nicht die USA als globalen Hegemon verdrängen und ersetzen. Er bemüht sich jedoch, die liberale internatio­nale Ordnung umzugestal­ten, und zwar in eine sinozentri­sche Weltordnun­g, in der China die herausrage­nde Macht in der Welt darstellt. Wenn die USA dies akzeptiere­n, dann wird die chi

nesische Regierung kein Problem mit ihnen haben. Aber wenn sie sich weigern, sich der Vormachtst­ellung Chinas zu beugen, dann ist das eine andere Sache. Ob China dieses Ziel erreichen kann, ist jedoch ein großes Fragezeich­en.

Der Erfolg der KP beruhte seit der wirtschaft­lichen Öffnung Chinas stets darauf, dass sie auf lokaler Ebene sehr pragmatisc­h war und sich immer wieder neu erfand. Unter Xi ist die Partei eine andere geworden. Gefährdet er die Stabilität des Systems?

Das hängt vom zeitlichen Rahmen ab. Kurzbis mittelfris­tig stärkt Xi Jinping die Partei. Längerfris­tig jedoch wird er die Nachhaltig­keit des Systems schwächen. Hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Teil von Xi Jinpings Veränderun­gen: dass er die kollektive Führung an der Spitze der KP durch die Herrschaft eines einzigen Mannes ersetzt hat. Vom Tian’anmen-Massaker 1989 bis hin zu Xis Amtsantrit­t 2012 hat die Partei keine einzigen politische­n Fehler gemacht, die ihre Existenz grundsätzl­ich gefährden würden. Das lag vor allem daran, dass die kollektive Führung es den Politikern erlaubte, hinter verschloss­enen Türen ziemlich robuste und offene Diskussion­en über politische Fragen zu führen. Seit Xi Jinping allerdings die Führungssp­itze in eine Echokammer verwandelt hat, sehen wir, dass erhebliche politische Fehler gemacht wurden – von den „Null Covid“-Maßnahmen über die Hongkong-Politik bis hin zum Sturz der führenden IT-Firmen.

Als absoluter Kontrollfr­eak erscheint es nur logisch, dass Xi Jinping sicherstel­len wird, dass eine Nachfolge in seinem Sinn gesichert ist. Wie werten Sie die Chance, dass ihm das gelingen wird?

Bisher gar nicht. Xi Jinping hat noch nie darüber geredet oder überhaupt zugelassen, dass seine Nachfolge institutio­nalisiert wird. Was so bemerkensw­ert an Xi Jinpings Gedankenle­hre ist: Sie reicht stets bis zum Jahr 2049, dem 100-jährigen Bestehen der Volksrepub­lik China. Er hat sich jedoch nicht dazu geäußert, was danach geschehen soll. Xi Jinping ist derzeit 70 Jahre alt, 2049 wird er also 95 sein. Ob er dieses Alter erreicht oder nicht, weiß ich natürlich nicht. Aber es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich dieser Mann mit seiner eigenen Sterblichk­eit auseinande­rsetzt.

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[APA/AFP/Greg Baker] Chinas Staatschef wird immer mächtiger: Xi Jinping beim Volkskongr­ess.

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