„Xi will globale Vormachtstellung “
Der renommierte Historiker Steve Tsang erklärt, warum Chinas Staatschef, Xi Jinping, die Volksrepublik grundlegend umwälzt, mit langjährigen Gesellschaftsverträgen bricht und welche Ziele er dabei wirklich verfolgt.
Peking. Der diesjährige Volkskongress in Peking stand ganz im Zeichen des Machtausbaus Chinas – und seines Staatschefs, Xi Jinping: Zum Abschluss der Tagung stimmte am Montag eine große Mehrheit der 2900 Delegierten für eine starke Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 7,2 Prozent auf umgerechnet rund 214 Mrd. Euro. Zugleich verstärkte Xi seine Kontrolle auf den Staat: Ein neues Gesetz garantiert ihm nun noch mehr exekutive Kontrolle über das Kabinett, den Staatsrat. Dass die Abschlusskonferenz erstmals seit Jahrzehnten abgesagt wurde, gilt als weiteres Zeichen für die zunehmend totalitäre Entwicklung Chinas.
Die Presse: Xi Jinping ist einer der mächtigsten Politiker weltweit, aber erst jetzt – über zehn Jahre nach seinem Amtsantritt als Generalsekretär der KP Chinas – gibt es eine unabhängige Buchpublikation über seine politische Ideologie. Warum?
Steve Tsang: Um die Gedankenlehre Xis zu verstehen, muss man sämtliche seiner Reden und Schriften durchforsten – das ist quälend langweilig und herausfordernd. Aber es ist wichtig, deshalb haben wir es getan.
Selbst innerhalb Chinas gibt es kaum einen Experten, der Xis Lehre in verständlichen Worten auf den Punkt bringen kann. Das erinnert an nordkoreanische Propaganda: Diese ist über weite Strecken dazu gedacht, möglichst diffus zu sein – damit sie eben nicht konkret überprüfbar ist.
Bei Xi Jinping ist dies nicht der Fall – im Gegenteil. Er will, dass man sich mit seiner Lehre auseinandersetzt und sie annimmt. Das Problem der unzähligen Institute und Forschungszentren in China ist, dass sie alle politisch korrekt sein müssen. Sie sind geradezu hagiografische Studien. Unser Buch hingegen versucht in klaren Worten herauszuarbeiten, was die Bedeutung und die Folgen von Xi Jinpings Gedankenlehre tatsächlich sind – mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Problemen. Wir haben keinen Gedanken darauf gegeben, ob es Xi Jinping gefallen würde oder nicht. In China könnte sich dies kein Forscher erlauben.
Welche biografischen Ereignisse prägten Xis politische Bildung?
Der Kollaps der Sowjetunion und der Niedergang des Kommunismus in Osteuropa waren Ereignisse, die sehr großen Einfluss auf seine Denkweise hatten. Das Erste, was Xi 2012 nach seinem Amtsantritt sagte, war: Die große Tragödie der heroischen KPdSU sei es gewesen, dass – als Michail Gorbatschow die Ränge der Partei aufstieg – niemand der Kader mutig genug war, gegen den Verräter vorzugehen und ihn zu verhaften. Unter seiner Amtszeit würde ihm das nicht passieren. Das ist aber nur eine Dimension. Was am stärksten aus seiner Gedankenlehre hervorgeht, ist das schiere Ausmaß seiner Ambition. Er versucht in keine Fußstapfen zu treten, sondern möchte ein transformativer Führer sein, der China – gemäß Marx – zum Gelobten Land führt. Seine Idee, China wieder groß zu machen, der Traum der „chinesischen Verjüngung“, geht weit darüber hinaus, was sich Staatsgründer Mao Zedong in seinen wildesten Träumen ausgemalt hat.
Was meinen Sie damit?
Mao sprach auf dem Höhepunkt seiner Macht davon, dass China das Vereinigte Königreich übertreffen und dann versuchen würde, mit den USA gleichzuziehen. Xi geht es nicht um die USA. Er will die Vormachtstellung in der Welt erlangen und China zu seiner wahren Größe führen.
Verlangt er dafür die totalitäre Teilnahme aller seiner Bürger? Oder kann man es sich im China unter Xi Jinping noch leisten, passiven Widerstand zu leisten?
China ist ein riesiges Land mit 1,4 Milliarden
Menschen. Selbst mit fast 100 Millionen KPMitgliedern und all den digitalen Technologien, die ihr zur Verfügung stehen, ist es schwierig, alle auf Linie zu bringen. Es ist die Frage, wie lang Xi an der Macht bleibt. Je länger er an der Macht bleibt, desto eher wird er sein Ziel erreichen können. Diejenigen, die sich nicht an seine Lehre anpassen, werden im Gefängnis landen oder China verlassen. Aber so weit sind wir noch nicht.
Jahrzehntelang hat in China ein Gesellschaftsvertrag gegolten, der darauf beruht hat, dass die Bevölkerung im Gegenzug für wirtschaftliche Verbesserungen ihre politischen Rechte an die Partei abtritt. Xi schrieb den Vertrag um.
Aus seiner Sicht hat er ihn verbessert. Es geht nicht mehr nur um eine hohe Wachstumsrate, sondern darum, dass die Menschen stolz darauf sind, Chinesen zu sein. Zudem will er die Wirtschaft an neue Technologien anpassen und die Kluft zwischen Superreichen und Superarmen verringern. Aber hier müssen wir genau hinschauen: Xi Jinping versucht nicht wirklich, soziale Gerechtigkeit im marxistischen Sinn zu schaffen.
Tatsächlich spricht Xi offen aus, dass er einen Wohlfahrtsstaat nach europäischem Vorbild ablehnt, weil er Arbeiter „faul“mache. Warum diese Ablehnung?
Xi Jinping ist nur dem Namen nach Marxist, in Wirklichkeit ist er durch und durch Leninist. Ein Marxist konzentriert sich in erster Linie auf soziale Gerechtigkeit und auf Umverteilung. Einem Leninisten geht es vorrangig um Kontrolle. Daran ist Xi Jinping am meisten interessiert. Ihn interessiert nicht das Wohlergehen des Individuums, sondern das Wohl des Volks als Ganzen. Ein Volk, das von der Partei vertreten wird.
Welche Rolle spielen Privatunternehmen?
Xi Jinping ist nicht per se gegen Privatunternehmen, solang sie patriotisch sind – also mit den chinesischen Traditionen, wie Xi sie definiert, übereinstimmen und der Kommunistischen Partei und ihrem obersten Führer gegenüber loyal sind. Private Unternehmen, die all diese Kriterien erfüllen, sind also in Ordnung – das sieht man am Beispiel von Huawei. Jedoch vor die Wahl gestellt zwischen Privatunternehmen und Staatsunternehmen, zieht Xi stets Letztere als Stütze der chinesischen Wirtschaft vor.
Sie argumentieren, dass Xi auch Außenpolitik unter dem Aspekt betrachtet, ob sie der Partei nützt. Möchte er die westliche Weltordnung stürzen?
Da müssen wir klar unterscheiden: China möchte nicht die USA als globalen Hegemon verdrängen und ersetzen. Er bemüht sich jedoch, die liberale internationale Ordnung umzugestalten, und zwar in eine sinozentrische Weltordnung, in der China die herausragende Macht in der Welt darstellt. Wenn die USA dies akzeptieren, dann wird die chi
nesische Regierung kein Problem mit ihnen haben. Aber wenn sie sich weigern, sich der Vormachtstellung Chinas zu beugen, dann ist das eine andere Sache. Ob China dieses Ziel erreichen kann, ist jedoch ein großes Fragezeichen.
Der Erfolg der KP beruhte seit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas stets darauf, dass sie auf lokaler Ebene sehr pragmatisch war und sich immer wieder neu erfand. Unter Xi ist die Partei eine andere geworden. Gefährdet er die Stabilität des Systems?
Das hängt vom zeitlichen Rahmen ab. Kurzbis mittelfristig stärkt Xi Jinping die Partei. Längerfristig jedoch wird er die Nachhaltigkeit des Systems schwächen. Hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Teil von Xi Jinpings Veränderungen: dass er die kollektive Führung an der Spitze der KP durch die Herrschaft eines einzigen Mannes ersetzt hat. Vom Tian’anmen-Massaker 1989 bis hin zu Xis Amtsantritt 2012 hat die Partei keine einzigen politischen Fehler gemacht, die ihre Existenz grundsätzlich gefährden würden. Das lag vor allem daran, dass die kollektive Führung es den Politikern erlaubte, hinter verschlossenen Türen ziemlich robuste und offene Diskussionen über politische Fragen zu führen. Seit Xi Jinping allerdings die Führungsspitze in eine Echokammer verwandelt hat, sehen wir, dass erhebliche politische Fehler gemacht wurden – von den „Null Covid“-Maßnahmen über die Hongkong-Politik bis hin zum Sturz der führenden IT-Firmen.
Als absoluter Kontrollfreak erscheint es nur logisch, dass Xi Jinping sicherstellen wird, dass eine Nachfolge in seinem Sinn gesichert ist. Wie werten Sie die Chance, dass ihm das gelingen wird?
Bisher gar nicht. Xi Jinping hat noch nie darüber geredet oder überhaupt zugelassen, dass seine Nachfolge institutionalisiert wird. Was so bemerkenswert an Xi Jinpings Gedankenlehre ist: Sie reicht stets bis zum Jahr 2049, dem 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik China. Er hat sich jedoch nicht dazu geäußert, was danach geschehen soll. Xi Jinping ist derzeit 70 Jahre alt, 2049 wird er also 95 sein. Ob er dieses Alter erreicht oder nicht, weiß ich natürlich nicht. Aber es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich dieser Mann mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzt.