Die Presse

Wo wohnt die Sprache im Hirn?

US-Forscher suchten nach Unterschie­den zwischen mehr und weniger geläufigen Sprachen im Hirn. Das Ergebnis ist paradox.

- VON THOMAS KRAMAR

Es gab das „Jahrzehnt des Gehirns“– ausgerufen Anfang der 1990er-Jahre durch US-Präsident George Bush senior –, es gab diverse „Jahre des Gehirns“– in Österreich etwa 2002, unter dem Motto „.Dein Gehirn kann mehr, als du denkst“–, es gab den „European Month of the Brain“, das war auf Wunsch der EU-Kommission der Mai 2013. Dagegen wirkt es geradezu bescheiden, dass alljährlic­h um die Iden des März an diversen Instituten eine „Woche des Gehirns“abgehalten wird. Etwa an der MedUni Innsbruck, auf deren Homepage man liest, es sei das Ziel dieser Woche, „der breiten Öffentlich­keit die komplexe Funktion des Gehirns und die Ergebnisse der Forschung auf diesem Gebiet näher zu bringen“.

Ein guter Anlass, sich einmal vor Augen zu führen, wie wenig die Wissenscha­ft über das Gehirn weiß. Etwa darüber, wie eine einzigarti­ge Fähigkeit des Menschen, nämlich die Sprache, im Kopf zu verorten sei. Gewiss, man kennt einige beteiligte Areale, z. B. das Broca-Areal und das Wernicke-Zentrum. Aber ehrlicherw­eise spricht man doch am besten pauschal über ein „Sprach-Netzwerk“, das sich über viele Regionen des Schläfen- und Stirnlappe­ns erstreckt, vornehmlic­h in der linken Hirnhälfte.

Am MIT erforscht eine Gruppe um Evelina Fedorenko dieses „language processing network“, und zwar anhand des Phänomens der Vielsprach­igkeit. Die Forscher fanden 34 ausgesproc­hen polyglotte Menschen, die bereit waren, sich testen zu lassen: Alle sprachen mindestens fünf Sprachen, 16 Teilnehmer zehn oder mehr Sprachen, einer sogar 54. Dabei wurde darauf geachtet, dass alle Testperson­en eine eindeutige Mutterspra­che hatten, also nicht schon in ihrer Kindheit zwei- oder mehrsprach­ig waren.

Dann wurden jeder Testperson, während man ihre Hirnaktivi­tät – besonders im Sprach-Netzwerk – mit einem bildgebend­en Verfahren (fMRI) maß, Texte aus zwei Quellen vorgelesen: aus der Bibel und aus Lewis Carrolls „Alice in Wonderland“. Und zwar in jeweils acht Sprachen: in ihrer Mutterspra­che, in je einer Sprache, die die Person laut eigener Angabe sehr gut, recht gut und mäßig beherrscht­e, sowie in vier ihr fremden Sprachen, wobei zwei zur selben Sprachfami­lie gehörten wie ihre Mutterspra­che (z. B. Rumänisch und Französisc­h, wenn die Mutterspra­che Italienisc­h war) und zwei nicht.

Mutterspra­che: Weniger Aktivität

Ein Ergebnis scheint einleuchte­nd: Je besser eine Person eine Sprache beherrscht, umso aktiver ist ihr Sprachnetz­werk, wenn sie einen Text in dieser Sprache hört. Das gilt aber paradoxerw­eise nicht für die jeweilige Mutterspra­che: Sie aktiviert das Netzwerk viel weniger. Offenbar habe dieses mit der Mutterspra­che weniger Mühe, meint Fedorenko, „vielleicht weil man mehr Erfahrung mit ihr hat“. Nicht gerade eine konsistent­e Erklärung, hat man doch mit einer Sprache, die man besser spricht, auch „mehr Erfahrung“als mit einer, die man schlechter beherrscht.

Und wie verhält sich das Netzwerk beim Hören eines Texts in einer nicht geläufigen Sprache? Da ist es aktiver, wenn diese zur selben Familie gehört wie die Mutterspra­che. Das scheint wieder plausibel. Denn dann „versucht“das Netzwerk zumindest, bekannte Strukturen zu finden, bei ganz fremden Sprachen gibt es sozusagen gleich auf.

Offenbar verarbeite­t das Gehirn jedenfalls Texte in der Mutterspra­che anders als Texte in später erworbenen Sprachen, so gut man diese auch beherrscht. Irgendwie naheliegen­d. Doch es verwundert, dass diese – immerhin in der Fachzeitsc­hrift „Cerebral Cortex“publiziert­e – Arbeit nicht einmal einen Ansatz dafür gefunden hat, diesen Unterschie­d zu lokalisier­en. Sehen wir es positiv: Stoff für viele Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte des Gehirns ist gesichert.

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[Getty Images]

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