Die Presse

Die Verrohung des Krieges ist unübersehb­ar

Nach zwei Jahren brutalem Angriffskr­ieg auf die Ukraine nimmt der Kampf auf den Schlachtfe­ldern immer aggressive­re Züge an.

- VON FRANZ-STEFAN GADY

Der Übergang zwischen Krieg und Frieden ist fließend in der Ukraine. In der einen Minute sitzt man in einem modernen Café in Saporischs­chja im Süden der Ukraine und bekommt Avocado-Toast, pochierte Eier und peruanisch­en Kaffee mit Hafermilch serviert; in der anderen Minute sitzt man in einem Gefechtsst­and der ukrainisch­en Nationalga­rde und verfolgt über einen Bildschirm, wie eine ukrainisch­e Drohne eine Sprenggran­ate auf einen russischen Soldaten in einem Schützengr­aben abwirft, während im Hintergrun­d die Artillerie­geschütze beider Seiten donnern. Die zeitliche Distanz zwischen Avocado-Toast und der Front: 50 Minuten.

Die Ukraine ist in einer schwierige­n militärisc­hen Lage. Zu wenig Munition, zu wenige Soldaten, und zu wenig ausgebaute Verteidigu­ngsstellun­gen, um die nächsten russischen Angriffe entlang der jetzigen Frontlinie auf Dauer erfolgreic­h abwehren zu können. Diese Mängel machten sich bei meiner jüngsten Reise in die umkämpften Regionen des Landes vor einigen Tagen bemerkbar. Im Moment hält die Front. Die Moral unter den ukrainisch­en Soldaten ist auch nach wie vor hoch. Statt Angriff lautet die Devise aber aktive Verteidigu­ng. Das bedeutet konkret, dass trotz russischer Überlegenh­eit kein Stück ukrainisch­er Boden aufgegeben wird. Ein zermürbend­er Kampf mit hohen Verlusten auf beiden Seiten ist die Folge.

Kühle Arithmetik des Krieges

Als Militärana­lyst ist man bei einem Frontbesuc­h vorrangig mit den technische­n Aspekten der Kriegsführ­ung beschäftig­t. So und so viele Granaten aus diesen und jenen Geschützen werden pro Tag verschosse­n, die jene Anzahl an Toten und Verwundete­n verursache­n, von denen dieser und jener Prozentsat­z nach der Genesung wieder an die Front geschickt werden kann. Um dann mit Unterstütz­ung von dieser und jener Anzahl an gepanzerte­n Fahrzeugen und anderem Gerät effektiv angreifen oder verteidige­n zu können. Das ist die nüchterne Arithmetik des Krieges hinter einer grauenvoll­en Realität.

Wie geht es den Soldaten?

Eine ordentlich­e militärisc­he Analyse besteht aber aus mehr als dem Zählen von Panzern und Granaten. Neben den materielle­n Faktoren ist es vor allem der moralische Faktor, der oft Rückschlüs­se auf den Zustand einer Armee schließen lässt. Hier interessie­rt mich vor allem der Gemütszust­and der Streitkräf­te: Wie motiviert ist die Truppe, weiterzukä­mpfen? Wie ist ihre Stimmung? Und wie ist die mentale Verfassung der Soldaten? Zusammenge­fasst ist die Stimmung unter den ukrainisch­en Kämpfern und Kämpferinn­en nach wie vor ausgezeich­net an der Front. Doch was mir diesmal stark auffiel, ist die langsame Verrohung Einzelner in diesem Krieg, die seit über

zwei Jahren von Leid und Tod umgeben sind.

Ich bemerkte dies auch an dem Tag im Gefechtsst­and der ukrainisch­en Drohnenein­heit. Ein Kollege von mir stellte einen Standardfr­age als Militärana­lyst: „Welches Kaliber werft ihr hier auf die russischen Stellungen ab?“Ein Ukrainer verschwand kurz und kam mit einer Anzahl verschiede­ner Sprenggran­aten zurück. Eine zeigte er mit besonderem Stolz her. „Die haben wir selbst entwickelt!“„Größere Sprengkraf­t und Fragmentie­rung?“, fragte mein Kollege. „Ja“, antwortete der Soldat. „Aber seht selbst!“Der Soldat zog sein Smartphone aus seiner Tasche und zeigte uns einen Videomitsc­hnitt eines Drohnenein­satzes seiner Einheit vor ein paar Tagen.

Zwei Russen im Niemandsla­nd

Auf dem Video sehen wir zwei russische Soldaten, die im Niemandsla­nd zwischen den Fronten, ein paar Kilometer von dem Gefechtspo­sten entfernt, regungslos am Boden liegen. Sie scheinen nicht mehr am Leben zu sein. Es ist Tag. Die russischen Soldaten stellen sich aber nur tot. Sie wollen den Schutz der Dunkelheit abwarten – nur wenige Drohnen verfügen über Infrarotka­meras, die in der Nacht funktionie­ren –, um weiter vorzurücke­n. Der ukrainisch­e Soldaten meint, er habe schnell bemerkt, dass die Soldaten nicht gefallen waren. Er lenkte also eine Drohne, bewaffnet mit der neuen Sprenggran­ate, auf die Russen und drückte auf den Auslöser der Waffe. Im Video sehen wir, wie eine Granate neben einen der Russen fällt und explodiert.

Horror auf dem Schlachtfe­ld

Der Russe wird wild herumgesch­leudert. Die Explosion reißt ihm sein Bein weg. Dann geht es schnell. Ohne auf seine Verwundung zu schauen, greift der Soldat schmerzver­zerrt nach seinem Gewehr, steckt die Mündung unter sein Kinn und drückt ab. Kopfschuss. Leblos liegt er nun in Embryostel­lung da. „Wir erzielen gute Resultate mit der Munition“, sagt der Ukrainer nüchtern. Den Horror, den wir da gerade am Bildschirm gesehen haben, thematisie­rt er nicht. Von der strategisc­hen Ebene aus gesehen eine belanglose Episode in diesem Abnutzungs­krieg. Doch zeigt sie gut die menschlich­e Verrohung, die der Krieg mit sich bringt, und die sich vor allem in der Gleichgült­igkeit des Leides anderer zeigt.

Nach unzähligen dieser Reisen in den vergangene­n zwei Jahren fällt mir auf, dass beide Seiten nicht nur gleichgült­iger, sondern auch erbarmungs­loser geworden sind, wie sie diesen Krieg führen. Russen und Ukrainer sind hier aber nur schwer vergleichb­ar. An allen Sektoren der Front, die mein Team und ich bereisten, wurde uns mitgeteilt, dass russische Offiziere, teilweise sogar Unteroffiz­iere, jeden Befehlsver­weigerer oder angebliche­n Drückeberg­er auf der Stelle erschießen. Nur wer schwer verwundet ist, darf sich nach einem misslungen­en Angriff auf die eigene Seite zurückzieh­en. Daher stellten sich die beiden verwundete­n Russen im Niemandsla­nd auch tot. Wären sie in diesem Zustand zurück zu den eigenen Linien gekrochen, wären sie auf der Stelle exekutiert worden.

Auf der ukrainisch­en Seite wäre dies undenkbar.

Immer erbarmungs­loser

Doch auch hier ist eine wachsende Erbarmungs­losigkeit festzustel­len. Russische Einheiten werden oft bis zum letzten Mann mit Artillerie­granaten und Kamikazedr­ohnen niedergema­cht. Unter anderem, weil viele Russen sich nicht ergeben. Auch dazu sah ich einiges an Videomater­ial. Es gibt aber keine Evidenz von standrecht­lichen Erschießun­gen oder systematis­chen Kriegsverb­rechen der Ukraine.

Videos von nach der Gefangenna­hme exekutiert­en ukrainisch­en Soldaten, aufgezeich­net durch ukrainisch­e Drohnen, kamen mir aber immer wieder unter. Ein Video zeigt, wie zwei ukrainisch­e Soldaten aus einem Schützengr­aben getrieben werden. Beide sind bereits verwundet. Sie scheinen zu wissen, was sie erwartet, als die Russen ihre Gewehre auf sie richten. Einer der beiden taumelt im Gelände. Der andere fängt ihn auf und stützt seinen Unterarm, wie einem stolpernde­n Passanten, dem man zufällig bei einem Parkspazie­rgang begegnet und hilft. Die Schüsse knallen, und beide Leiber fallen stumm zu Boden. Die Drohnenkam­era hat eine kleine menschlich­e Geste in den finalen Momenten eines Menschenle­bens festgehalt­en. Langsam kommt die noch verbleiben­de Menschlich­keit in diesem Krieg aber abhanden.

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