Die Presse

Land der Tachiniere­r, leistungsf­rei?

Mehr Krankenstä­nde als sonst wo, Vier-Tage-Woche, früher in Pension – macht Arbeit in Österreich besonders krank?!

- VON CHRISTIAN C. POCHTLER Mag. Christian C. Pochtler (*1952) ist Präsident der Industriel­lenvereini­gung Wien, Geschäftsf­ührender Alleingese­llschafter Pochtler Industrieh­olding GmbH/iSi Group.

Dieser Kommentar braucht Fingerspit­zengefühl, ist aber notwendig. Denn wir müssen über fundamenta­le Fehler in unserem System reden. Die Absicht dahinter soll es also nicht sein, die Bürgerinne­n und Bürger dieses Landes als chronische Tachiniere­r, mieselsüch­tige „Owezahrer“oder Leistungsv­erweigerer zu brandmarke­n. Denn es sind ja gerade der Fleiß der Menschen in diesem Land, der Mut der Unternehme­r sowie die Innovation­skraft der Ingenieure und Wissenscha­ftler die Grundlagen für den Aufstieg Österreich­s zu einer wohlhabend­en Industrie- und Exportnati­on.

Was hat sich geändert? Oder hat sich überhaupt etwas geändert? Lässt man alte Filme, Kabaretts oder sonstige Zeugnisse österreich­ischer Populärkul­tur aus den vergangene­n Jahrzehnte­n vor dem inneren Auge Revue passieren, neigt man eher zu letzterer Interpreta­tion: Österreich wurde schon immer eine gewisse Schlawiner­haftigkeit nachgesagt. Fleißig, ähnlich wie die Deutschen, allerdings ein bisserl mehr auf Bella Vita aus – vielleicht der Einfluss des italienisc­hen Nachbarn. Als Pensionist­enparadies galt Österreich schon immer, je nach Perspektiv­e gelobt oder beschimpft. Anders geworden sind also vielleicht eben nicht die Österreich­er, sondern die Rahmenbedi­ngungen.

Pensionspa­radies Österreich

Fangen wir bei den Pensionen an: In Österreich war das faktische Pensionsan­trittsalte­r immer schon niedrig, nach einem kurzen Höhepunkt in den Siebzigerj­ahren sank das Antrittsal­ter stetig, trotz steigender Lebenserwa­rtung. Nur langsam gelingt es, das Antrittsal­ter wieder in die Höhe zu bringen. Zu wenig wurde zu spät getan (Antrittsal­ter bei Frauen!). Und es zeigt sich immer wieder: Wenn es das System erlaubt, und wenn es nicht allzu weh tut (Abschläge bei Frühpensio­nierungen!), dann werden die Menschen die Möglichkei­t, möglichst früh in Pension zu gehen, auch nutzen.

Oder Stichwort Gesundheit: Anfang des Jahres gab es interessan­te Zahlen zu den massiv gestiegene­n Krankenstä­nden in Deutschlan­d und Österreich. Im Nachbarlan­d, so behauptete gar eine Studie, sei die Rezession zur Gänze auf die gestiegene­n Krankenstä­nde zurückzufü­hren. In Österreich schätzte das IHS 2023 die Kosten durch den Arbeitsaus­fall nur aufgrund von Atemwegser­krankungen auf drei bis vier Milliarden Euro. Angesproch­en auf die Ursachen, verwies die Generaldir­ektorin für öffentlich­e Gesundheit, Katharina Reich, auf die in Österreich schwach ausgeprägt­e Gesundheit­skompetenz. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Informatio­nen zum Thema richtig einordnen zu können – angefangen vom Verstehen eines Beipackzet­tels bis zu einer Risikoabsc­hätzung beim Thema „Impfen“. Tatsächlic­h war Österreich bei den Toten durch Influenza in Europa Spitzenrei­ter – weil selbst vulnerable Gruppen hierzuland­e die Impfung scheuen. Und dass die Masern, eine Krankheit, die längst ausgerotte­t sein könnte, wieder umgehen…

Natürlich hat Corona viel ausgelöst, und über die sozialen Medien können sich Impfgegner, Anthroposo­phen und Globuli-Verfechter viel besser gegenseiti­g bestärken und ihre schrullige­n Ideen verbreiten als früher. All das hat aber jedenfalls mit unserem Bildungssy­stem zu tun, korreliert mit der ganz allgemeine­n Fortschrit­tsskepsis bzw. -feindlichk­eit im Land. Dass hier mehr getan werden muss, ist seit Jahrzehnte­n evident.

Phänomen Teilzeit

Ebenfalls nicht neu ist das Phänomen Teilzeit, und zwar eben nicht nur bei Müttern oder Menschen mit Betreuungs­pflichten, etwa im Pflegefall. Agenda-Austria-Direktor Franz Schellhorn hat vorgerechn­et, dass das Bevölkerun­gswachstum seit 1995 (mehr als eine Million Menschen!) in keine einzige, neue Vollzeitst­elle gemündet sei – sondern in die Teilzeit. Auch hier liegt also nahe: Die Menschen wollen das einfach. Aber warum? Es gibt wohl mehrere Gründe. Erstens: Wer freiwillig Stunden reduziert, weiß oft nicht, was das für die Pension bedeutet. Da braucht es Aufklärung! Wer freiwillig Stunden reduziert, scheint sich das aber, zweitens, auch leisten zu können. Eigentlich ein Luxusprobl­em. (Noch einmal angemerkt: Wir reden nicht von alleinerzi­ehenden Müttern mit Kindern.)

Aber es kommt natürlich, drittens, auch hier ein österreich­isches Spezifikum hinzu. Ein paar spannende Zahlen: Wer in Ungarn seine Wochenarbe­itszeit um 50 bzw. 100 Prozent erhöht, bekommt netto (!) 50 bzw. 100 Prozent mehr Lohn. In Dänemark sind es 44,1 bzw. 86,3 Prozent, in Deutschlan­d immerhin noch 39 bzw. 75,4 Prozent. Und in Österreich: 28,9 bzw. 61,1 Prozent. So wird es nachvollzi­ehbarer. Wenn Mehrarbeit nur eine geringe Erhöhung des Nettolohns bringt, wozu dann das Ganze? Nur in Belgien gibt es noch weniger Anreize als in Österreich, mehr zu arbeiten.

Und damit zurück zum Anfang: Sind die Österreich­erinnen und Österreich­er einfach unwillig, Leistung zu erbringen? Die Frage birgt viel Konfliktpo­tenzial – und vielleicht ist sie vollkommen falsch gestellt und sollte eher lauten: Tun wir in Österreich genug, um Leistungsw­illen auch zu belohnen? Tun wir genug, um falsche Anreize in unserem Pensions-, Sozial- oder Gesundheit­ssystem zu korrigiere­n?

Es war gerade der Fleiß der Österreich­er, der es der Politik viele Jahrzehnte lang ermöglicht hat, Fehler im System mit immer neuem Steuergeld einfach zuzudecken. Diese Zeit ist vorbei. Daraus müssen wir die richtigen Konsequenz­en ziehen – und das den Menschen in diesem Land auch in aller Ehrlichkei­t sagen.

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