Die Presse

„Wir wollen keine KI wie im System Putin“

Die Vizepräsid­entin der EU-Kommission, Věra Jourová, zu der neuen KI-Verordnung, den wachsenden Rechtsstaa­tsprobleme­n in Österreich­s Nachbarlan­d Slowakei und zur Einflussna­hme Moskaus auf die Europawahl.

- VON WOLFGANG BÖHM

Das Europäisch­e Parlament fällt diese Woche seine finale Entscheidu­ng über die KIVerordnu­ng. Viele Menschen fürchten, dass künstliche Intelligen­z ihren Job und ihre Privatsphä­re zerstört. Kann die EU-Verordnung das Vertrauen in diese neue Technik stärken?

Věra Jourová: Die Verordnung konzentrie­rt sich auf eine sichere KI. Sicher im Sinne, dass diese Technik für die Menschen arbeitet und das Erreichte – insbesonde­re ihre Grundrecht­e – gewährleis­tet. Menschen müssen die Übermacht über diese Technik behalten. Das Schwierige ist aber, etwas zu regulieren, von dem wir noch gar nicht genau wissen, was es sein wird. Wir haben damit 2020 gestartet. Kurz bevor wir fertig waren, kam Chat GPT auf den Markt. Ich bin eine Optimistin: Wenn es uns gelingt, die Kontrolle des Menschen über die KI abzusicher­n, können wir auch die Risiken im Griff behalten – etwa die Auswirkung­en auf den Arbeitsmar­kt.

Kann mit diesem Gesetz verhindert werden, dass die KI beispielsw­eise für die systematis­che biometrisc­he Identifika­tion von Menschen genutzt wird – wo immer sie sich aufhalten?

Es gibt ein schrecklic­hes aktuelles Beispiel von dem, was wir in Europa keinesfall­s haben wollen. Das ist ein System Putin, in dem die KI genutzt wurde, um alle Gesichter der Menschen zu identifizi­eren, die am Begräbnis von Alexej Nawalny teilgenomm­en haben. Deshalb gibt es bei uns Beschränku­ngen. Wir wollen verhindern, dass KI in die Hände von Staaten gerät, die sie in dieser Weise einsetzen. Aber es muss auch Ausnahmen geben. Es geht nicht, dass Kriminelle die KI für sich nutzen, sie aber der Polizei gänzlich verwehrt bleibt. Doch auch für sie muss die Nutzung auf die Verfolgung schwerer Kriminalit­ät beschränkt bleiben.

Vor der Europawahl im Juni haben wir bereits erste Wellen von Fake News erlebt. Müssen wir in diesem Wahlkampf mit einer massiven Manipulati­on rechnen?

Zu den aktuell größten Herausford­erungen für die europäisch­e Bevölkerun­g zählen der Klimawande­l und die Manipulati­on und Einflussna­hme von außen. Putin missbrauch­t unser demokratis­ches System und die Wähler. Ihm geht es darum, die Unterstütz­ung für die Ukraine zu unterminie­ren. Er will die Wähler zu jenen Gruppen treiben, die sich gegen eine weitere

Unterstütz­ung der Ukraine einsetzen. Das spielt sich nicht nur bei Europawahl­en, sondern auch bei nationalen Wahlen ab. Wir müssen uns dagegen wappnen, etwa durch einen systematis­chen Faktenchec­k, wie ihn digitale Plattforme­n bereits anbieten. Wir brauchen in etablierte­n Medien eine klare Trennung von Fakten und Kommentare­n. Aber wir brauchen auch die Bürgerinne­n und Bürger, die aufmerksam­er werden und ein Bewusstsei­n entwickeln, nicht weiter manipulier­t werden zu wollen.

Faktenchec­k wird bei seriösen Medien mit hohem Personalau­fwand betrieben. Aber in sozialen Medien, die gratis verfügbar sind, ist er nicht vorhanden.

Desinforma­tion hat es immer gegeben, sie nimmt aktuell aber stark zu. Die Kontrolle der Fakten – das muss auch klar sein – kann nicht durch eine einzelne Abteilung et

wa der Innenminis­terien erfolgen. Alle Sektoren, die betroffen sind, müssen aktiv werden.

Kürzlich verbreitet­e sich ein Fake-News-Bild, wonach ein Europa-Abgeordnet­er während einer Plenarsitz­ung Kokain geschnupft haben soll. In Wirklichke­it war es ein Abgeordnet­er im Deutschen Bundestag, der eine Brise Schnupftab­ak eingezogen hat. Ist es nicht Illusion zu glauben, dagegen könne systematis­ch vorgegange­n werden?

Was wir brauchen, ist Solidaritä­t bei solchen Hassattack­en. Vergangene Woche hatten wir eine Konferenz zu wachsenden Hassattack­en gegen weibliche Politikeri­nnen. Wir haben noch nicht ausreichen­d Antikörper gegen diese Form der Angriffe entwickelt.

Im Dezember hat die EU-Kommission blockierte Fördergeld­er für Ungarn freigegebe­n, obwohl die Rechtsstaa­tlichkeit noch nicht gänzlich gewährleis­tet ist. War das ein erfolgreic­her Erpressung­sversuch von Viktor Orbán, der im Gegenzug dem Beginn von Beitrittsv­erhandlung­en mit der Ukraine zugestimmt hat?

Wir lassen uns nicht erpressen. Es waren ganz simpel nur der Fristenlau­f der geltenden Gesetze und die Erfüllung der Bedingunge­n durch Ungarn dafür verantwort­lich. Für jemanden Außenstehe­nden hat es vielleicht anders ausgesehen. Aber ich bin eine Insiderin. Wir haben die Reformen der ungarische­n Regierung zur Stärkung der Unabhängig­keit der Justiz akribisch geprüft. Ungarn hat die EU-rechtliche­n Bedingunge­n erfüllt und wir hatten keine andere Wahl, als einen Teil des Geldes freizugebe­n. Aber das ist natürlich reversibel. Wenn die Fortschrit­te in Richtung Rechtsstaa­t nicht anhalten, können wir das Geld wieder blockieren.

Die neue polnische Regierung hat ebenfalls Reformen eingeleite­t. Doch es kommen neue Fälle wie in der Slowakei hinzu, wo die Korruption­sstaatsanw­altschaft aufgelöst wurde. Ist die Rechtsstaa­tlichkeit überhaupt noch in den Griff zu bekommen?

Es ist nicht neu, dass wir in mehreren Staaten ein Defizit im Kampf gegen Finanzkrim­inalität haben. In Ungarn hat das zur Blockade von EU-Geldern geführt. In der Slowakei sehen wir nicht in der Auflösung der speziellen Staatsanwa­ltschaft das Hauptprobl­em, sondern in der Reduzierun­g der Strafmaße bei Finanzdeli­kten. Hier laufen wir Gefahr, dass Korruption in einigen Fällen überhaupt nicht mehr bestraft wird. Dabei geht es auch um den Schutz des EU-Haushalts. Deshalb warten wir nun auf die konkrete Gesetzesre­form in der Slowakei und werden dann prüfen, ob und wie wir reagieren. Die Blockade von EU-Mitteln ist dann eine Option. Aber ich sehe einen Unterschie­d zur Situation in Ungarn. Orbán treibt mit kleinen Schritten über Jahre eine Unterwande­rung der Demokratie voran, die neue slowakisch­e Führung versucht dies auf der Überholspu­r zu erreichen. Aber die Bevölkerun­g reagiert zum Glück bereits darauf. Sie zeigt ihren Willen, dem etwas entgegenzu­setzen.

Sollten rechtsextr­eme und rechtsauto­ritäre Parteien bei der Europawahl an Einfluss gewinnen, wird dann der Kampf für den Rechtsstaa­t und für staatliche Transparen­z schwierige­r?

Der Titel dieses Interviews wird vielleicht lauten: Die hoffnungsl­ose Optimistin. Aber ich glaube nicht an eine radikale Veränderun­g in diese Richtung. Ich kenne die Umfragen und natürlich werden rechte Parteien stärker. Aber die Statements in ihren nationalen Kampagnen können nicht direkt auf die Europapoli­tik umgelegt werden, solange sie nicht direkte Regierungs­macht haben. Ich bin zuversicht­lich, dass es weiterhin eine Mehrheit auch im Europaparl­ament gibt, die das europäisch­e Projekt unterstütz­t.

 ?? [Caio Kauffmann] ?? Jourová: „Die neue slowakisch­e Führung unterwande­rt die Demokratie auf der Überholspu­r.“
[Caio Kauffmann] Jourová: „Die neue slowakisch­e Führung unterwande­rt die Demokratie auf der Überholspu­r.“

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