„Kindern wird soziale Teilhabe genommen“
Österreich hat Nachholbedarf bei der Bildung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Während es in einigen Bereichen langsam Fortschritte gibt, wird in Wien nun eine Schule mit Tagesbetreuung geschlossen.
„Gravely concerned“, also „ernsthaft besorgt“über große Teile davon, wie Inklusion im österreichischen Bildungssystem derzeit umgesetzt wird, zeigte sich der Fachausschuss der Vereinten Nationen (UN), nachdem er Österreich vergangenen Sommer überprüft hatte. Das war keine große Überraschung – Interessenvertreter der Eltern von Kindern mit Behinderung machen immer wieder auf den großen Nachholbedarf Österreichs bei der inklusiven Bildung aufmerksam.
Das hat dazu geführt, dass in den vergangenen Monaten im sogenannten sonderpädagogischen Bereich nun ein paar Dinge in Bewegung gekommen sind. Wie Ö1 berichtete, will Bildungsminister Martin Polaschek noch im Laufe dieser Woche einen Gesetzesentwurf in Begutachtung schicken, damit ab kommendem Schuljahr Österreichische Gebärdensprache verstärkt an den Schulen angeboten wird. Aktuell gibt es Gebärdensprache in der Regelschule nicht als eigenes Fach. Künftig soll sie nun in der Pflichtschule für gehörlose Kinder als verbindliche Übung unterrichtet werden, in der Oberstufe dann als zweite lebende Fremdsprache und als Wahlpflichtgegenstand. So könnte ermöglicht werden, dass Schüler auch in dem Fach maturieren können.
Nach der UN-Kritik an der mangelhaften Datenlage zur Bildung von Kindern mit Behinderungen in
Österreich wurde noch im vergangenen Jahr die lang erwartete Evaluierung „der Vergabepraxis des sonderpädagogischen Förderbedarfs“präsentiert. Hervor geht, dass der Wohnort großen Einfluss darauf hat, ob Kindern bei einer körperlichen oder psychischen Behinderung ein sogenannter sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) attestiert wird. Österreichweit war das zuletzt bei rund fünf Prozent der Pflichtschüler der Fall, das sind knapp 30.000 Kinder.
Weisung aus dem Ministerium
Nachdem zuvor immer wieder abgelehnt worden ist, dass Kinder mit
SPF ein elftes oder zwölftes Schuljahr absolvieren können, ist das seit einer Weisung aus dem Bildungsministerium grundsätzlich kein Problem mehr. In den Ländern gelinge es, dass betroffene Kinder dafür auch an derselben Schule bleiben können, an der sie zuvor waren, sagt Karin Riebenbauer. Sie ist selbst betroffene Mutter und Initiatorin der Aktion „Ich will Schule!“, die eine laufende Verfassungsklage auf den Rechtsanspruch auf ein elftes und zwölftes Schuljahr für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf eingebracht hat.
In Wien allerdings, wo es besonders viele Schüler mit SPF gibt, gebe es hier immer noch Probleme. Für das elfte und zwölfte Schuljahr würden Kinder mit Behinderung nämlich oft an nicht inklusive Exposituren verwiesen. Ab dem Schuljahr 2024/25 soll etwa die inklusive Hans-Radl-Schule II. im 18. Bezirk mit der Hans-Radl-Schule I. zusammengelegt werden. Das führt dazu, dass auch Schüler mit SPF, die das elfte und zwölfte Schuljahr besuchen wollen, nun in einer sonderpädagogischen Einrichtung im zweiten Bezirk beschult werden sollen. Betreuung gibt es dort dann nur von 8 bis 12 statt bisher bis 16 Uhr. Für die betroffenen Eltern sei das eine Katastrophe, sagt Riebenbauer. „Natürlich sind es oft Mütter, die dann ihre Jobs aufgeben müssen.“Und auch für die Kinder sei es sehr verwirrend, das letzte Schuljahr an einem anderen Standort zu verbringen. Außerdem werde ihnen durch die fehlende Nachmittagsstruktur die Teilhabe am sozialen Leben genommen. „Sie verabreden sich ja nicht wie andere Jugendliche am Nachmittag zum lernen, sondern sie sind dann ab zwölf Uhr zuhause mit einem Elternteil“, erklärt Riebenbauer. Helfen würde laut ihr ein Gesetz anstelle einer Weisung, weil der Bund den Bildungsdirektionen dann mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen müsste.
Mehr Flexibilität fordert die Initiative „Ich will Schule!“auch am Beginn der Bildungskarriere. Aktuell sieht das Schulpflichtgesetz nämlich nicht vor, dass etwa Kinder mit Behinderungen, die eine Entwicklungsverzögerung mit sich bringen (z. B. Trisomie 21), später eingeschult werden können. Geht es nach Riebenbauer und ihren Mitstreitern, sollte der Beginn der Berechnung der Schuljahre um bis zu zwei Jahre nach hinten verschoben werden können.
Bundesseitig dürfte sich rund um die inklusive Bildung in absehbarer Zeit jedenfalls noch etwas tun. Im Bildungsministerium wird derzeit an kompetenzorientierten Lehrplänen für den sonderpädagogischen Bereich gearbeitet, die ein gemeinsames Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung unterstützen sollen.