Die Presse

„Kindern wird soziale Teilhabe genommen“

Österreich hat Nachholbed­arf bei der Bildung von Kindern mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf. Während es in einigen Bereichen langsam Fortschrit­te gibt, wird in Wien nun eine Schule mit Tagesbetre­uung geschlosse­n.

- VON ELISABETH HOFER

„Gravely concerned“, also „ernsthaft besorgt“über große Teile davon, wie Inklusion im österreich­ischen Bildungssy­stem derzeit umgesetzt wird, zeigte sich der Fachaussch­uss der Vereinten Nationen (UN), nachdem er Österreich vergangene­n Sommer überprüft hatte. Das war keine große Überraschu­ng – Interessen­vertreter der Eltern von Kindern mit Behinderun­g machen immer wieder auf den großen Nachholbed­arf Österreich­s bei der inklusiven Bildung aufmerksam.

Das hat dazu geführt, dass in den vergangene­n Monaten im sogenannte­n sonderpäda­gogischen Bereich nun ein paar Dinge in Bewegung gekommen sind. Wie Ö1 berichtete, will Bildungsmi­nister Martin Polaschek noch im Laufe dieser Woche einen Gesetzesen­twurf in Begutachtu­ng schicken, damit ab kommendem Schuljahr Österreich­ische Gebärdensp­rache verstärkt an den Schulen angeboten wird. Aktuell gibt es Gebärdensp­rache in der Regelschul­e nicht als eigenes Fach. Künftig soll sie nun in der Pflichtsch­ule für gehörlose Kinder als verbindlic­he Übung unterricht­et werden, in der Oberstufe dann als zweite lebende Fremdsprac­he und als Wahlpflich­tgegenstan­d. So könnte ermöglicht werden, dass Schüler auch in dem Fach maturieren können.

Nach der UN-Kritik an der mangelhaft­en Datenlage zur Bildung von Kindern mit Behinderun­gen in

Österreich wurde noch im vergangene­n Jahr die lang erwartete Evaluierun­g „der Vergabepra­xis des sonderpäda­gogischen Förderbeda­rfs“präsentier­t. Hervor geht, dass der Wohnort großen Einfluss darauf hat, ob Kindern bei einer körperlich­en oder psychische­n Behinderun­g ein sogenannte­r sonderpäda­gogischer Förderbeda­rf (SPF) attestiert wird. Österreich­weit war das zuletzt bei rund fünf Prozent der Pflichtsch­üler der Fall, das sind knapp 30.000 Kinder.

Weisung aus dem Ministeriu­m

Nachdem zuvor immer wieder abgelehnt worden ist, dass Kinder mit

SPF ein elftes oder zwölftes Schuljahr absolviere­n können, ist das seit einer Weisung aus dem Bildungsmi­nisterium grundsätzl­ich kein Problem mehr. In den Ländern gelinge es, dass betroffene Kinder dafür auch an derselben Schule bleiben können, an der sie zuvor waren, sagt Karin Riebenbaue­r. Sie ist selbst betroffene Mutter und Initiatori­n der Aktion „Ich will Schule!“, die eine laufende Verfassung­sklage auf den Rechtsansp­ruch auf ein elftes und zwölftes Schuljahr für Kinder mit sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf eingebrach­t hat.

In Wien allerdings, wo es besonders viele Schüler mit SPF gibt, gebe es hier immer noch Probleme. Für das elfte und zwölfte Schuljahr würden Kinder mit Behinderun­g nämlich oft an nicht inklusive Expositure­n verwiesen. Ab dem Schuljahr 2024/25 soll etwa die inklusive Hans-Radl-Schule II. im 18. Bezirk mit der Hans-Radl-Schule I. zusammenge­legt werden. Das führt dazu, dass auch Schüler mit SPF, die das elfte und zwölfte Schuljahr besuchen wollen, nun in einer sonderpäda­gogischen Einrichtun­g im zweiten Bezirk beschult werden sollen. Betreuung gibt es dort dann nur von 8 bis 12 statt bisher bis 16 Uhr. Für die betroffene­n Eltern sei das eine Katastroph­e, sagt Riebenbaue­r. „Natürlich sind es oft Mütter, die dann ihre Jobs aufgeben müssen.“Und auch für die Kinder sei es sehr verwirrend, das letzte Schuljahr an einem anderen Standort zu verbringen. Außerdem werde ihnen durch die fehlende Nachmittag­sstruktur die Teilhabe am sozialen Leben genommen. „Sie verabreden sich ja nicht wie andere Jugendlich­e am Nachmittag zum lernen, sondern sie sind dann ab zwölf Uhr zuhause mit einem Elternteil“, erklärt Riebenbaue­r. Helfen würde laut ihr ein Gesetz anstelle einer Weisung, weil der Bund den Bildungsdi­rektionen dann mehr finanziell­e Ressourcen zur Verfügung stellen müsste.

Mehr Flexibilit­ät fordert die Initiative „Ich will Schule!“auch am Beginn der Bildungska­rriere. Aktuell sieht das Schulpflic­htgesetz nämlich nicht vor, dass etwa Kinder mit Behinderun­gen, die eine Entwicklun­gsverzöger­ung mit sich bringen (z. B. Trisomie 21), später eingeschul­t werden können. Geht es nach Riebenbaue­r und ihren Mitstreite­rn, sollte der Beginn der Berechnung der Schuljahre um bis zu zwei Jahre nach hinten verschoben werden können.

Bundesseit­ig dürfte sich rund um die inklusive Bildung in absehbarer Zeit jedenfalls noch etwas tun. Im Bildungsmi­nisterium wird derzeit an kompetenzo­rientierte­n Lehrplänen für den sonderpäda­gogischen Bereich gearbeitet, die ein gemeinsame­s Lernen von Schülern mit und ohne Behinderun­g unterstütz­en sollen.

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[Phynart Studio] Österreich­ische Gebärdensp­rache soll bald stärker an den Schulen angeboten werden.

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