Shiffrins wilder Ritt der Emotionen
Im Spannungsfeld zwischen Triumph und Tod verblüfft Mikaela Shiffrin einmal mehr. Warum der US-Star mit Strahlkraft weit über die Pisten hinaus vorerst nur noch Spaß haben will.
Dankbar sei sie, sagt Mikaela Shiffrin. Für die Unterstützung, die sie bekommen hat. Vielleicht ist sie es rückblickend auch für manch Erfahrung, die sie sammeln musste. Beim Saisonfinale in Saalbach-Hinterglemm geht es für die erfolgreichste Skirennfahrerin der Historie ausnahmsweise nicht um neue Titel und Rekorde. Die verbleibenden Kristallkugeln machen ab dem anstehenden Wochenende andere unter sich aus, doch für die 28jährige US-Amerikanerin ist das in Ordnung.
Shiffrin hat nervenaufreibende Wochen und Jahre hinter sich. Der Sturz ihres Lebensgefährten Aleksander Aamodt Kilde in Wengen Mitte Jänner war ein Schock – für sie und die gesamte Skiwelt. Knapp zwei Wochen später erwischte es Shiffrin in der Abfahrt von Cortina d’Ampezzo selbst.
Es ging um „Leben oder Tod“
Rund eineinhalb Monate musste sie daraufhin pausieren. Vergangenen Sonntag kehrte sie zurück. Ihr überlegener Sieg in Åre, durch den sie zum achten Mal die Slalomgesamtwertung gewann, war eine Machtdemonstration – und das vorläufige Ende einer emotionalen Achterbahnfahrt.
„Heilige Sch…“, habe sie gedacht, als sie Kilde ins Fangnetz krachen sah, sagt Shiffrin. Wie schlimm sich der Norweger tatsächlich verletzt hatte, wurde vielen erst später bewusst. Er hatte viel Blut verloren, Nerven und Muskeln im Bein wurden beschädigt. Laut Shiffrin ging es in den ersten Stunden nach dem Unfall um „Leben und Tod“. Sofort war sie zu ihm ins Krankenhaus geeilt.
Wochenlang war Kilde an den Rollstuhl gefesselt. Eine der „größten Herausforderungen meines Lebens“sei das gewesen, berichtete er kürzlich. Mittlerweile läuft der 31-Jährige wieder. Es gehe voran, meint Shiffrin. „Aber es ist ein langer Weg“, der beide reichlich Energie kostet, wie die Amerikanerin sagt. Das Wichtigste in ihrer Beziehung sei, dass „wir die Gefühle des anderen verstehen“, erklärt sie. Womöglich wurde ihr das in der gemeinsamen Zwangspause bewusster denn je.
Shiffrin selbst verletzte sich bei ihrem Sturz in Cortina Ende Jänner zwar nicht so schwer wie Kilde. Ihr
Comeback danach immer wieder verschieben zu müssen habe sie aber gequält, sagt die 96-fache Weltcupsiegerin. Irgendwann habe sie einsehen müssen, dass der Zug im Gesamtweltcup abgefahren ist. Womöglich hätte sie ihn diese Saison zum sechsten Mal gewonnen. Womöglich hätte sie die Marke von 100 Weltcup-Erfolgen schon diesen
Winter geknackt. Es nützt ihr nichts mehr, darüber nachzudenken.
Mentalität und Inspiration
Dass Shiffrin bewegte Kapitel aus ihrer Vergangenheit keineswegs verdrängt, sondern mental verarbeitet und an ihnen wächst, beweist auch der Umgang mit dem Tod ihres Vaters, dessen sie nur wenige Tage vor dem Comeback in Åre in den sozialen Medien gedachte.
Nach dem überraschenden Ableben von Jeff Shiffrin Anfang 2020 hatte seine Tochter eine Auszeit genommen und Chancen auf diverse Kristallkugeln ungenützt gelassen. Die Strahlkraft der 28-Jährigen fußt nicht nur auf ihren Erfolgen. Sie spricht ihre Gefühle sowie vermeintliche gesellschaftliche Tabuthemen offen an – und inspiriert damit Menschen weit über den Dunstkreis von Skipisten hinaus.
Darüber hinaus verblüfft sie eben als nimmermüde Kämpferin. Wie nach Olympia 2022 in Peking, als die Topfavoritin ohne Medaille geblieben ist – und wenig später mit dem Gewinn des Gesamtweltcups zurückgeschlagen hat. Nun geht es beim Saisonfinale nur noch darum, Spaß zu haben. Das ist nach Shiffrins wildem Ritt der Emotionen vermutlich sogar mehr wert als alles andere. (red./DPA)
Es gab eine Ungewissheit betreffend der Verletzung.
Mikaela Shiffrin über ihr Comeback