Der rote Stier war einst eine lachende Kuh
Mit den Debatten über den Marschflugkörper Taurus und die Getränkefirma Red Bull ist der maskuline Wiederkäuer derzeit stark medienpräsent. Was macht ihn zum Sinnbild? Wieso soll er rot sein? Und was tut er mit Europa?
Man soll nicht mit Namen spielen. Auf seine kantige Weise setzte sich U2-Gitarrist David Evans vulgo The Edge über dieses Verbot hinweg, indem er ankündigte, er werde dem Red-Bull-Teamchef Christian Horner ein Lied namens „Don’t be horny, be Christian!“widmen. Das Adjektiv „horny“bedeutet ungefähr das, was unser „geil“bedeutete, bevor es die Jugendsprache zum keimfreien Lobeswort abgeschwächt hat; es leitet sich vom tierischen Horn ab, das, erraten, die Erektion symbolisieren soll. Es passt auch zum Firmennamen Red Bull, zum gehörnten Stier als Wappentier der ungezügelten Männlichkeit. An dessen toxischem Fluidum konnte selbst Munro Leafs wunderbares, bereits 1936 erschienenes Kinderbuch „Ferdinand der Stier“– über einen Stier, der nicht kämpfen will, sondern lieber an Blumen riecht – nichts ändern.
Das gleichnamige Getränk enthält ja auch Taurin, eine Aminosulfonsäure, die an vielen Stoffwechselprozessen beteiligt ist, die der Körper – im Gegensatz zu den essenziellen Aminosäuren – aber selbst erzeugen kann. Dass sie spezifisch die Muskel- oder gar die Manneskraft fördere, konnte nicht bestätigt werden; doch der Name – der sich der Tatsache verdankt, dass sie erstmals 1927 in der Galle eines Ochsen (!) entdeckt wurde – tut seine werbepsychologische Wirkung. Das ebenfalls in Energy Drinks enthaltene Glucuronolacton klingt nicht so gut.
Warum muss der Stier rot sein? Die Antwort ist wohl trivial: Die Farbe Rot steht für Blut, Gefahr und Erregung; die Toreros reizen den Stier mit einem roten Tuch, obwohl das arme Rind – wie die meisten Säugetiere – gar nicht zwischen Rot und Grün unterscheiden kann. Aber es trägt zur Aufregung des Publikums (mit Ausnahme der Rot-Grün-Blinden in der Arena) bei. Da sitzen sie und fiebern beim archaischen Spektakel, das die alten Römer Taurobolium nannten: das Opfern eines Stiers für die große Muttergöttin Kybele. Eine symbolische Attacke aufs Patriarchat sozusagen.
Das berühmteste rote Rind, bevor der Energy Drink aus Österreich die Welt eroberte, war allerdings weiblich: die Kuh auf der Verpackung des Schmelzkäses „La vache qui rit“. Diese mit Ohrringen geschmückte Kuh lachte zuerst während des Ersten Weltkriegs: auf einer Illustration des französischen Comiczeichners Banjamin Rabier, der ein Militärfahrzeug damit dekorierte. Wachkyrie hieß das Tier zuerst: eine parodistische Variation von Walküre. Sie sollte die WagnerObsession deutscher Militärs persiflieren.
Auch Marcel Proust assoziierte ja, gut 60 Jahre vor Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“, in seiner „Recherche du temps perdu“die deutschen Zeppeline mit dem Walkürenritt. Schon in den frühen 1960er-Jahren trug dann ein Bomber der US-amerikanischen Air Force den Namen Valkyrie, da dachte niemand mehr an eine Kuh.
Weg vom genderfluiden Gefilde, zurück zum Stier. Die Waffe, die derzeit in der europäischen Politik die größte Rolle spielt, heißt auch nach ihm: der deutsch-schwedische Marschflugkörper Taurus. Ein Himmelsstier sozusagen, nur ohne jede Anmutung von Fruchtbarkeit, wie sie die mythischen Stiere immer hatten. Man hat für dieses Gerät, wohl mit Mühe, eine AkronymAbleitung gefunden („Target Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System“), der Name spielt aber naturgemäß mit dem alten Bild vom Stier als unaufhaltsamem, sturem Zerstörer. Vergleichbare französische Marschflugkörper heißen übrigens Apache („Arme propulsée à charges éjectables“), offenbar in Anlehnung an den Indianerstamm – hat schon einmal jemand gegen diese Aneignung protestiert?
Nicht nur verbal angeeignet, sondern physisch entführt wurde die phönizische Königstochter Europa: nach Kreta (nicht zum Taurus-Gebirge, das kommt von einem semitischen Wort, das Gebirge heißt), von einem Stier, in den sich Göttervater Zeus selbst verwandelt hatte. Laut gängiger Version des alten Mythos jedenfalls.
In der Variante in Ovids „Metamorphosen“kommt Europa freiwillig mit nach Kreta, sie streichelt den Stier, hält ihm – als ob er Ferdinand hieße – Blumen vors schneeweiße Maul, kränzt ihn mit Girlanden, bevor sie aufsteigt und ihre Kleider im Wind flattern. Niemand möge das als Plädoyer verstehen, weder für die pazifistische Selbstaufgabe Europas noch für eine eilige Besorgung der Taurus-Marschflugkörper. Aber es ist eine schöne Geschichte, oder?