Die Presse

Antisemiti­smus steigt dramatisch

Die Zahl antisemiti­scher Vorfälle hat sich vervielfac­ht, vor allem via Social Media, aber es kommt auch öfter zu tätlichen Angriffen — etwa unter Teenagern.

- VON CHRISTINE IMLINGER

Wien. Der 7. Oktober war eine Zäsur. In vielerlei Hinsicht, aber auch, was das ganz alltäglich­e Leben von Jüdinnen und Juden in Österreich betrifft. „Sie alle wissen, was am 7. Oktober passiert ist, eine Terrororga­nisation hat 1200 Menschen, Kinder, Frauen, Ältere, auf brutalste Art und Weise getötet und mehr als 200 Geiseln, Juden und Araber, verschlepp­t. Diese Terrororga­nisation hält noch mehr als 130 Geiseln in Haft, aber sie hält auch zwei Millionen Palästinen­ser in Geiselhaft“, sagt Oskar Deutsch, der Präsident der Israelitis­chen Kultusgeme­inde (IKG). Und seither sei in seiner Gemeinde, sagt er, „die Leichtigke­it verschwund­en“.

Jüdinnen und Juden in Österreich sehen sich, wie in ganz Europa, einem dramatisch­en Anstieg antisemiti­scher Vorfälle gegenüber, das weist nun der Jahresberi­cht der Antisemiti­smus-Meldestell­e deutlich aus.

„Explosions­artiger Trend“

Benjamin Nägele, der Generalsek­retär der IKG Wien und Leiter der Meldestell­e, spricht von einem „Negativrek­ord“, einer Häufung von Vorfällen in einem „noch nie da gewesenen Ausmaß“: 2023 wurden bei dieser Meldestell­e 1147 antisemiti­sche Vorfälle verzeichne­t, ein absoluter Höchststan­d. 2023 stellt damit selbst das von der Corona-Pandemie und damit verbundene­n Demos und antisemiti­schen Verschwöru­ngstheorie­n geprägte Jahr 2021 (965 Vorfälle) in den Schatten. Der heurige Wert stellt den höchsten seit Beginn der Erfassung 2008 dar. „Man muss den Bericht aber in zwei Teile teilen. Es gibt die Zeit bis zum 7. Oktober – und die Zeit danach“, so Deutsch.

Gezählt werden Vorfälle von tätlichen Angriffen bis zu Social-Media-Postings, die gemeldet werden. Die Zahl der Angriffe stieg 2023 von 14 auf 18, das inkludiert jede Form des physischen Angriffs auf Menschen oder Gebäude. Nägele nennt als Beispiele etwa den Brandansch­lag auf den jüdischen Teil des Zentralfri­edhofs, bei dem die Zeremonien­halle ausgebrann­t ist. Oder einen Vorfall, bei dem Jugendlich­e, als Jüdinnen und Juden erkennbar, zuerst aus einem Auto heraus beschimpft wurden; auch „Free Palestine!“rief man ihnen entgegen. Dann habe, wie Nägele erzählt, das Auto angehalten, mehrere Personen haben die Jugendlich­en umzingelt, auf sie eingeschla­gen und erst von ihnen abgelassen, als Anrainer aus dem Fenster gedroht haben, die Polizei zu rufen.

In der Kategorie der Bedrohunge­n, der schriftlic­hen oder mündlichen Androhunge­n konkreter physischer Gewalt, ist im Vorjahr die Zahl von 21 auf 18 zurückgega­ngen, die Fälle von Sachbeschä­digung stiegen von 122 auf 149, Vorfälle von „verletzend­em Verhalten“stiegen von 222 auf 426, am stärksten aber war der Anstieg in der Kategorie Massenzusc­hriften: Hier wurden nach 140 Vorfällen 2022 im Vorjahr 536 Fälle verzeichne­t. Darunter fallen etwa Social-Media-Beiträge.

Hier wurde 2024, besonders in den drei Monaten ab Oktober, ein „explosions­artiger Trend“verzeichne­t. Wie in ganz Europa, wo sich die Zahlen der antisemiti­schen Vorfälle verhundert­facht, zum Teil vertausend­facht hätten, wie Nägele sagt.

Betrachtet man die Verteilung über das Jahr, wurden bis zum 7. Oktober im Schnitt 1,55 antisemiti­sche Vorfälle pro Tag registrier­t. Ab 7. Oktober waren es dann statistisc­h 8,3 Vorfälle pro Tag – mehr als eine Verfünffac­hung gegenüber den ersten neun Monaten 2023.

Nägele spricht von einer Zäsur. Jüdinnen und Juden legen jüdische Symbole ab, nehmen nicht mehr an Veranstalt­ungen teil, zeigen den Davidstern nicht mehr offen.

Täter wie Opfer werden jünger

Große Sorge bereitet vor allem der von Social Media befeuerte, radikale Antisemiti­smus unter Jüngeren: Jüdische Schülerinn­en und Schüler werden zum Teil von Gleichaltr­igen angegriffe­n. „Vor allem bei Übergriffe­n physischer Natur werden die Täter und Täterinnen immer jünger“, sagt Nägele. Hier habe ein überpropor­tionaler Teil der Täter und Täterinnen muslimisch­en Hintergrun­d. Insgesamt seien laut dem Bericht ideologisc­h 34 Prozent der Fälle von rechts, 18 von links und 25 muslimisch motiviert gewesen.

Für 2024 gibt es noch keine Zahlen, aber eine Trendwende, ein Rückgang der Vorfälle, sei nicht in Sicht. Aktuell sei die Bedrohung nach wie vor groß. „Aber wir lassen uns nicht unterkrieg­en, das jüdische Leben findet statt, das lassen wir uns nicht nehmen“, sagt Oskar Deutsch.

Er berichtet aber auch vom hohen Druck und mahnt angesichts der „Horrorzahl­en aus aller Welt“: „Es geht nicht nur um uns Juden. Jetzt sind wir dran. Aber wenn der Hass, der Antisemiti­smus noch stärker wird, dann ist die Demokratie gefährdet. Wenn sich der Hass auf den Straßen durchsetzt, dann ist Leben, wie es bisher möglich war, nicht mehr möglich.“

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[AFP/Joe Klamar] Wienerinne­n und Wiener demonstrie­ren gegen den Angriff der Hamas im Oktober 2023.

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