Warum EU bei Hilfe für Gaza nicht auf die USA warten will
Die UNO warnt vor einer Hungersnot im Gazastreifen. Die Europäer richten einen Seekorridor ein. Sie wollen damit auch ihre politische Rolle stärken.
An der Küste des Gazastreifens wird Tag und Nacht gebaut. Aus Schutt und Trümmern des Krieges zwischen der Hamas und Israel errichtet die Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK) in aller Eile einen Landesteg, der noch vor dem Wochenende fertig sein soll. WCK-Gründer José Andrés veröffentlichte Fotos von Lastwagen und Kränen, die im Licht von Scheinwerfern schwere Betonteile ins Meer schieben; sie sollen als Fundamente des 35 Meter langen Stegs am Strand von Gaza dienen. An dem improvisierten Hafenkai soll in zwei Tagen das Schiff Open Arms anlegen, das am Dienstag mit 200 Tonnen Hilfsgütern in der zyprischen Hafenstadt Larnaka in See gestochen ist.
Die Fahrt der Open Arms eröffnet den EUSeekorridor für die Gaza-Hilfe. Zypern stellt den Hafen Larnaka zur Verfügung, Fachleute der EU sollen die Verladung der Hilfsgüter koordinieren, die Mitgliedsländer der Union und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zahlen; auch Großbritannien macht mit. Die USA planen einen eigenen schwimmenden Pier vor der Küste Gazas, der aber erst in zwei Monaten fertig sein wird.
Deutschland wirft Hilfsgüter ab
Derzeit versuchen sie mit dem Abwurf von Hilfsgütern aus der Luft das Elend etwas zu lindern. An dieser Luftbrücke beteiligt sich nun auch Deutschland. Verteidigungsminister Boris Pistorius erteilte am Mittwoch den Auftrag dazu an die Bundeswehr.
Bis die USA so weit sind, auch auf dem Seeweg Hilfe zu bringen, wollen die Europäer schon Tausende Tonnen Güter zu den notleidenden Menschen geschickt haben. „Wenn der Seekorridor aufgebaut ist, können wir regelmäßige und verlässliche Hilfslieferungen garantieren“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die UNO schätzt, dass eine halbe Million Menschen in Gaza vom Hunger bedroht sind – jeder vierte Bewohner des Küstenstreifens.
Dass die EU selbst aktiv wird und nicht – wie sonst in Nahost-Fragen üb
lich – auf Washington wartet, ist ungewöhnlich. „Ich sehe es als Zeichen einer längst überfällig gewordenen europäischen Akteursqualität“, sagt Thomas Demmelhuber von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur „Presse“. Die EU versuche, nicht nur diplomatisch auf die Akteure einzuwirken, damit mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen, sie gehe auch daran, „konkret über eigene Aktionen das humanitäre Leid der Zivilbevölkerung zu mildern“.
Mit den VAE haben die Europäer einen arabischen Partner gewonnen, der politisch einflussreich und wohlhabend ist und gute Beziehungen zu Israel unterhält. Demmelhuber sieht in dieser Partnerschaft der EU mit dem einzigen arabischen Teilnehmer ihres Seekorridors einen entscheidenden Vorteil. Die VAE sollten „offensichtlich eine zentrale Rolle in der zukünftigen Logistik der Hilfsgüter von der Entladung bis zur Verteilung spielen“. Dabei genieße der Golfstaat „das Vertrauen der israelischen Regierung“.
EU-Spitzenpolitiker begleiten die Hilfsaktion mit wachsender Kritik an Israel, das trotz internationaler Appelle am Plan für eine Offensive in der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens festhält. Landwege für die Versorgung der Zivilisten
seien „künstlich geschlossen worden“, sagte der EU-Außenbeauftragte, Josep Borrell, im UN-Sicherheitsrat. Die Bevölkerung werde ausgehungert. Israel weist den Vorwurf zurück, für den Nahrungsmittelmangel verantwortlich zu sein, und beschuldigt die UNO, bei der Versorgung der Menschen zu versagen. Die UNO argumentiert, Voraussetzung für mehr Hilfe sei eine Waffenruhe.
Schiffslieferungen sind zu wenig
Die UNO begrüßte den EU-Seekorridor als dringend benötigte Hilfe in der Not. Jens Laerke, Sprecher der UN-Organisation für die Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA), machte aber deutlich, dass Lieferungen per Schiff allein keine Lösung seien – dazu ist der Bedarf an Hilfe zu groß.
Am Dienstag konnte die UNO erstmals seit fast einem Monat einen Lkw-Konvoi in den Norden des Gazastreifens schicken, mit Nahrung für 25.000 Menschen. Für eine Mindestversorgung von Gaza sind laut UNO täglich 100 Lastwagentransporte nötig, das sind etwa 1000 Tonnen täglich. Schiffe wie die Open Arms können diese gewaltigen Mengen an Hilfe nicht liefern, auch wenn sie künftig regelmäßig zwischen Zypern und Gaza pendeln sollten.