Die Presse

Bildungska­renz: Eine teure Form von Flucht aus dem Job

Wer geht in Bildungska­renz? Es sind oft auch Menschen, die ihren Job satthaben. Und es werden mehr. Gesetzgebe­r und Arbeitgebe­r sind gefordert.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER E-Mails an: jeannine.hierlaende­r@diepresse.com

Die Aufregung ist groß, aber die Entwicklun­g war abzusehen: Die Bildungska­renz wird immer beliebter, die Ausgaben gehen durch die Decke. 2013 kostete die Bildungska­renz den Staat 109 Millionen Euro. Zehn Jahre später waren es schon 337 Millionen Euro. Wer in Bildungska­renz geht, ist pensions-, krankenund unfallvers­ichert, finanziert aus der Arbeitslos­enversiche­rung. Rechnet man diese Kosten dazu, summieren sich die Ausgaben, wie berichtet, auf eine halbe Milliarde Euro. Das gesamte österreich­ische Arbeitsmar­ktbudget betrug voriges Jahr 9,3 Milliarden Euro. Da ist eine halbe Milliarde nicht nichts.

Wen kann es wundern? Das Angebot ist bestechend: Eine Auszeit vom Job, bis zu ein Jahr lang, staatlich finanziert. Und niemand fragt genau nach, was man in dieser Zeit eigentlich macht: Ob man sich ernsthaft weiterbild­et oder nur den Sprachkurs einlegt, weil man eine Pause vom berufliche­n Alltag braucht. Wer sechs Monate ununterbro­chen sozialvers­icherungsp­flichtig beschäftig­t war, kann die Bildungska­renz beantragen. Praktisch jeder Antrag wird bewilligt. Die Anforderun­gen sind mickrig. Dumm eigentlich, wer sich das entgehen lässt.

22.000 Menschen waren zuletzt in Bildungska­renz. Mehr als die Hälfte verfügte über eine akademisch­e, eine mittlere oder eine höhere Ausbildung wie die Matura. Eingeführt wurde die Bildungska­renz Ende der 1990er-Jahre als vernünftig­e Idee: Menschen mit schlechten Arbeitsmar­ktchancen – niedrig Qualifizie­rte und/oder Ältere – sollten die Möglichkei­t erhalten, sich mit staatliche­r Unterstütz­ung weiterzubi­lden, um ihren Marktwert zu verbessern. Aber die eigentlich­e Zielgruppe sprang nicht an, dafür eine andere: Schon 2011 zeigte eine Evaluierun­g, dass die Bildungska­renz stark von jüngeren, gut ausgebilde­ten Menschen in Anspruch genommen wird, und weniger von Niedrigqua­lifizierte­n. Immer beliebter wird auch das Modell, mittels Bildungska­renz die Babypause zu verlängern. 2021 waren drei Viertel der Bezieher Frauen, über die Hälfte schloss die Bildungska­renz an die Elternkare­nz an.

Eine Bildungska­renz muss man sich leisten können. Man erhält 55 Prozent des letzten Nettogehal­ts als Weiterbild­ungsgeld, was für einen Akademiker mit einem finanziell­en Polster reichen mag, um ein paar Monate gut über die Runden zu kommen. Aber wer schlecht ausgebilde­t ist und wenig verdient, kommt damit nicht weit. Was zur paradoxen Situation führt, dass derzeit Arbeiter mit ihren Steuern Akademiker­n mit ohnehin guten Jobchancen ihre Auszeiten finanziere­n. Die Bildungska­renz ist ein Programm für Besserverd­iener. Das war wohl nicht im Sinne des Erfinders.

Es liegt im Wesen des Menschen zu optimieren. Menschen trachten danach, ihre Lebenssitu­ation zu verbessern, für sich selbst, für ihre Familien. Das ist der Grund, warum marktwirts­chaftliche Systeme immer den größten Wohlstand hervorgebr­acht haben: weil sie Menschen die Möglichkei­t geben, ihr Streben nach Maximierun­g ihres persönlich­en Nutzens auszuleben und so im Idealfall einen gesamtgese­llschaftli­chen Mehrwert zu schaffen. Wer ein Gesetz zu seinem persönlich­en Vorteil ausschöpft, dem kann man keinen Vorwurf machen. Das gilt für Frühpensio­nisten genauso wie für Menschen, die in Bildungska­renz gehen.

Aber es ist die Aufgabe der Gesetzgebe­r, richtige Anreize zu setzen beziehungs­weise falsche Anreize so gut wie möglich auszuschal­ten. Im Fall der Bildungska­renz ist das bisher gescheiter­t.

Der Rechnungsh­of hat bei der Bildungska­renz voriges Jahr Reformbeda­rf urgiert. Nun arbeitet die Regierung an einer Reform. Aber die Koalitions­partner sind völlig unterschie­dlicher Meinung: Die ÖVP will einen strengeren Zugang zur Bildungska­renz, die Grünen sind gegen Verschärfu­ngen. Zwischen ihnen liegt ein großer ideologisc­her Graben, wie schon das Scheitern der Arbeitsmar­ktreform gezeigt hat.

Aber in Zeiten des Fachkräfte­mangels sollten Unternehme­n sowieso nicht auf politische Reformen warten. Sondern sich überlegen, warum Mitarbeite­r in Scharen die Flucht in die Bildungska­renz antreten. Der Gesetzgebe­r ist gefordert. Aber die Arbeitgebe­r ebenso.

Newspapers in German

Newspapers from Austria