Warum China über Pressefreiheit debattiert
Repressionen treffen in der Volksrepublik auch Journalisten der staatseigenen Medien. Ein Vorfall im LiveFernsehen hat nun eine Solidaritätswelle ausgelöst.
Es sind Szenen, die man im chinesischen Staatsfernsehen selten zu sehen bekommt: Als das CCTV-Nachrichtenstudio zu seiner Reporterin in Sanhe schaltet, berichtet sie in hastigen Sätzen über die tragische Gasexplosion, die sich nur wenige Stunden zuvor in der Kleinstadt nahe Peking ereignet hat. Doch nach wenigen Sekunden schreiten bereits Männer in schwarzer Uniformen ein. Mit vollem Körpereinsatz gehen sie gegen die junge Frau vor, auch ihr Kameramann wird regelrecht überrumpelt. Die Bilder wackeln, ehe die Liveschaltung schließlich abgebrochen werden muss. Den Moderatoren im Pekinger Studio ist ihre Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben.
Folgen einer Gasexplosion
Und vielen Chinesinnen und Chinesen muss es ähnlich ergangen sein. Denn was für viele westliche Korrespondenten zum Journalisten-Alltag gehört, bleibt der Öffentlichkeit im Reich der Mitte meist verborgen: dass nämlich selbst grundlegende Berichterstattung mit Holzhammermethoden von den Sicherheitsbehörden verhindert wird. Dementsprechend schockiert gaben sich die meisten Internetnutzer. „Wir müssen die Journalisten schützen“, lautet einer der zahlreichen Kommentare auf der Online-Plattform Wechat.
Was zuvor geschah: Am Mittwochmorgen kam es in einem Restaurant an einer vielbefahrenen Geschäftsstraße zu einer fürchterlichen Explosion. Das gesamte mehrstöckige Gebäude wurde durch schwere Schockwellen in Schutt und Asche gelegt, selbst die Fenster der umliegenden Autos wurden ausnahmslos zersprengt. Zunächst hieß es von den Behörden, dass nur eine Person bei der
Tragödie ums Leben gekommen sei. Doch die Zweifel an dieser Version mehrten sich umgehend: Tatsächlich wurde die Opferzahl am nächsten Morgen auf sieben Personen korrigiert.
Doch viele Fragen blieben offen, etwa: Warum mussten die Menschen sterben?
Seit Jahren ist es in China gängige Praxis, dass die Behörden nach größeren Katastrophen und Unfällen eine offizielle Aussendung herausgeben, an die sich sämtliche Medien halten müssen. Berichterstattung, die darüber hinausgeht, wird entweder zensiert oder durch weiträumige Straßenabsperrungen vom Unglücksort unmöglich gemacht. Auf diesem Weg wird auch verhindert, dass die Ursachen der Tragödien ans Tageslicht kommen: etwa laxe Sicherheitsstandards, Korruption, Profitgier.
Da diesmal jedoch die Fernsehzuschauer live zusehen konnten, wie die Sicherheitsbeamten
gegen die Reporter vorgingen, konnte die Zensur die Debatte nicht mehr unter Verschluss halten. Auch die staatliche Journalistenvereinigung äußerte sich ungewöhnlich kritisch. „Wenn es keine Medienberichterstatter gäbe, wie würde die Öffentlichkeit dann die Antwort finden?“, heißt es in einer Stellungnahme vom Donnerstag: „Bei einem so großen Unfall, der die öffentliche Sicherheit betrifft, sind die Menschen gespannt darauf, mehr zu erfahren.“
Nährboden für Gerüchte
Zwischen den Zeilen lieferte die Organisation, die strikt unter der Knute der kommunistischen Partei steht, ein Plädoyer für freiere Berichterstattung. In der Kommentarspalte auf Wechat schrieb ein Journalist: „Je mehr wir nicht berichten dürfen, desto stärker verbreiten sich die Gerüchte.“
Nur wenige Stunden nach Beginn der Debatte ist der öffentliche Druck derart groß geworden, dass die Lokalregierung sich offiziell für ihr Verhalten entschuldigt hat. „Die schlechten Kommunikationsfähigkeiten unserer Mitarbeiter an vorderster Front und ihre groben Methoden führten zu Missverständnissen bei den Journalisten“, hieß es im typischen Bürokraten-Sprech.
Immerhin ist es beachtlich, dass in der Volksrepublik China, welche laut dem Pressefreiheit-Ranking von Reporter ohne Grenzen auf dem weltweit zweitletzten Platz liegt, nun unverhofft über die Arbeitsbedingungen von Journalisten debattiert wird. Dabei sollte man jedoch nicht naiv sein. Die Zensur der Parteiführung funktioniert ja vor allem deshalb so effizient, weil sie in regelmäßigen Abständen ein Ventil öffnet, damit die Bevölkerung ihren Frust entladen kann. Dabei bestimmt stets der Staat die Grenzen des Sagbaren.
Absurde Paranoia
Und die erlaubte Kritik richtet sich auch im aktuellen Fall nach einem stets bewährten Narrativ: Schuld hat ausschließlich die Lokalregierung, die ihre Macht scheinbar ohne das Mitwissen Pekings missbraucht hat.
Immer öfter führt die Paranoia der Behörden gegenüber kritischer Berichterstattung zu absurden Situationen. Selbst die Korrespondenten, die das totalitäre Regime Nordkoreas nach Peking entsandt hat, sind vor der staatlichen Kontrolle nicht sicher: Auch nordkoreanische Journalisten wurden bereits von der Polizei verfolgt, sobald sie auf Reportage in der chinesischen Provinz unterwegs waren.