„Wo sollen die Tycoons mit ihrem Geld hin?“
Einst Banker und Vizechef der Zentralbank, sitzt Oleg Vjugin heute im Aufsichtsrat einiger russischer Konzerne. Wie es der Wirtschaft geht, was sie umbringen würde und wie die Stimmung unter den Reichen ist, erklärt er im Interview.
Die Presse:
Politische Frage: Hat der Tod des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny etwas im Land bzw. in der Elite verändert?
Oleg Vjugin: Ich denke, wenn er etwas verändert hat, dann sehen wir es erst später. Viele drückten ihr Mitleid aus. Es ist überhaupt eine russisch-orthodoxe Tradition, Mitleid mit Opfern zu haben.
Zu Russlands Wirtschaft: Wie stabil ist sie heute nach zwei Jahren Ukraine-Krieg und Sanktionen?
Im Jahresvergleich kann man sagen, dass verständlicher wurde, worauf ihre Stabilität beruht.
Und zwar?
Die Wirtschaft vor einem Jahr war auch stabil, aber es gab viele Zweifel, dass es so bleibt, weil unklar war, wie sich die Sanktionen gegen den Ölexport auswirken. Auch war nicht klar, wie das Budget angesichts der höheren Militärausgaben finanziert werden soll. Jetzt wissen wir, dass das Budget die Möglichkeit bekam, hohe Summen für Rüstung und für Sozialzuwendungen an Soldaten auszugeben.
Was heißt „die Möglichkeit bekam“?
Bis vor zwei Jahren herrschte die Budgetregel, dass nur die Öleinnahmen bis zu einem Preis von 45 bis 50 Dollar je Fass für laufende Ausgaben verwendet werden, und alles, was darüber lag, gespart wird. Diese Regel wurde aufgegeben, und praktisch alle Einnahmen wurden nun sofort verwendet, was angesichts des vorjährigen Ölpreises von 80 Dollar viel war. Auch wurde der Nationale Wohlfahrtsfonds, die eiserne Reserve, angezapft, sodass die liquiden Mittel dort 2023 um mehr als die Hälfte schrumpften. Und die illiquiden auch.
Wie viel Geld ist im Fonds übrig?
An liquiden Mitteln umgerechnet so 47 Milliarden Euro.
Nicht viel.
Ja. Aber für heuer wird die Regierung genug Geld auftreiben. Für 2025 aber steht mehr oder weniger fest, dass die Steuern erhöht werden. Man wird zwei, drei Billionen Rubel (20 bis 30 Mrd. Euro) zusätzlich brauchen. Im Vorjahr hat ja
auch noch die starke Rubelabwertung dem Budget geholfen. Andererseits sprang die Inflation um einige Dutzend Prozente hoch.
Einige Dutzend? Offiziell lag sie zuletzt bei 7,5 Prozent.
Die wahre Inflation sieht man unter anderem an den Kommunalabgaben, die in manchen Regionen um 40 Prozent gestiegen sind.
Wie lang reicht Russland das Geld für den Krieg?
Die Frage ist künstlich. Für einige Jahre reicht das Geld leicht. In Wirklichkeit reicht es immer. Es gibt viele Hebel, um zu Geld zu kommen. Erst wenn die Rüstungsausgaben von den jetzigen sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 20 Prozent wie in der Sowjetunion steigen würden, würde die Wirtschaft wirklich eingehen.
Speziell die USA machen Druck auf jene Länder, die die Sanktionen umgehen helfen. Wird es für Russland enger?
Es macht hellhörig, da es die neu aufgebauten Handels- und Finanzierungswege mit befreundeten Ländern wie China behindert. Aber es werden sicher neue Wege gefunden. Sie werden halt teurer.
Was macht Sie sonst noch hellhörig in der Wirtschaft und Wirtschaftspolitik?
Dass die Importsubstitution in wichtigen Bereichen wie Elektronik oder Chipfertigung nicht gelang. Das wäre aber die Basis, um konkurrenzfähig zu sein. Aber es dauert auch Jahrzehnte, um so weit zu kommen, wie China zeigt. Russland kann das vielleicht einmal erreichen, aber es braucht viel Zeit. Das ist natürlich und heißt nicht, dass die Russen das weniger kapieren oder nicht arbeiten mögen. Hellhörig machen auch Arbeitskräftemangel und Brain-Drain.
Die Verstaatlichung von Firmen lässt Sie nicht aufhorchen?
Doch. Man kann bisher allerdings nicht sagen, dass hier systematisch vorgegangen wird.
Sie kennen die russische Wirtschaftselite. Welche Stimmung herrscht dort? Was beschäftigt und beunruhigt sie?
Über Politik redet sie keinesfalls – es sei denn zu Hause in der Küche. Die großen Unternehmer versuchen, wirtschaftlich etwas voranzubringen – kaufen was, verkaufen.
Ich nehme an, dass die Tycoons unzufrieden sind: Sie hatten Häuser und Geld im Westen. Ihre Kinder studierten in London …
… Wahrscheinlich sind sie unzufrieden. Aber was sollen sie tun?
Sind sie zornig auf den Westen, der sie hinausgedrängt hat?
Nicht unbedingt zornig. Die intellektuelleren Tycoons unter ihnen – also nicht die Gauner – denken, dass der Westen idiotisch und dumm gehandelt hat. Der Ökonom
Inozemcev hat das am besten erklärt: Statt die russische Elite mit ihrem Geld zu sich zu locken, hat der Westen sie mit ihrem Geld nach Russland zurückgetrieben. Und das ist für die russische Wirtschaft von Vorteil. Die Unternehmer sind Leute, die dort arbeiten, wo sie die Möglichkeit dazu haben.
Wo horten sie nun ihr Geld?
Das kann ich in den Einzelfällen nicht genau sagen. Aber mein Eindruck ist, dass sie ihr Geld in Russland horten.
Da haben die Tycoons aber großes Vertrauen!
Wo sollen sie sonst mit ihrem Geld hin? Im Westen kann es eingefroren werden. In China ist es schwer, China wehrt fremde Investitionen eher ab, es will nur Gemeinschaftsfirmen, und das nur, wenn es technologisch interessant ist. Vietnam und Indien kommen vielleicht für Investitionen infrage – diese Länder wachsen gut, aber man muss ihre Eigenheiten sehr gut kennen. Das ist nicht Europa, wo Regeln da sind und alles sehr einfach ist.
Hofft die Wirtschaftselite darauf, dass sich das Verhältnis mit dem Westen wieder normalisiert, oder sagt man sich jetzt, dass man das ohnehin nicht mehr braucht?
Diese Leute sind sehr pragmatisch. Wenn die Möglichkeit da ist, werden sie sie nützen.
Russlands Wirtschaft wuchs 2023 um 3,5 Prozent. Für 2024 werden nur noch 1,5 Prozent prognostiziert. Teilen Sie die Prognose?
Sie ist durchaus möglich. Die Militärausgaben steigen stark, und das liefert abermals einen Impuls, wenn auch nicht so stark wie 2023.
Sind die Sanktionshebel des Westens ausgeschöpft?
Das sagt der Westen ja selbst, weshalb er ja zu Sekundärsanktionen gegen Drittstaaten überging.
Am Wochenende sind Präsidentenwahlen. Nun behauptet einer der führenden russischen Politologen, Valerij Solowej, seit Monaten felsenfest, dass Wladimir Putin schon tot sei, im Kühlraum liege und von einem Doppelgänger ersetzt wird. Lebt Putin noch? Ich habe keine Ahnung. Den russischen Medien zufolge lebt er.