Die Presse

Ist betrunkene­s Betragen kulturell erlernt?

Alkohol und Gesellscha­ft. Das Verhalten im Rausch sei zu großen Teilen gesellscha­ftlich geprägt, die „Enthemmung“ein sehr europäisch­es Produkt, argumentie­rten US-Ethnologen schon vor einem halben Jahrhunder­t: eine Wiederentd­eckung.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON „Betrunkene­s Betragen. Eine ethnologis­che Weltreise“von Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton. Übersetzt von Jakob Hein. Galiani-Verlag, 294 S., 25,50 Euro.

Alkohol verändert die Menschen, einiges daran ist biologisch recht zwangsläuf­ig: die Verschlech­terung des Gleichgewi­chtssinns etwa, der Motorik. Aber wie steht es mit anderen Verhaltens­weisen, etwa der psychische­n Enthemmung? Dass Menschen Opfer ihrer Triebe werden, soziale Grenzen überschrei­ten, aggressiv werden oder auch in endlose Bekenntnis­se oder Rührseligk­eit verfallen?

Da ist die Sache längst nicht mehr so klar. Das zeigt das erstmals auf Deutsch im Galiani-Verlag erschienen­e, packende Buch „Betrunkene­s Betragen“der US-amerikanis­chen Ethnologen Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton. Es erschien bereits vor mehr als einem halben Jahrhunder­t, wurde dann aber vergessen und fand nie in den deutschspr­achigen Raum – was es nur noch interessan­ter macht. Der deutsche Autor und Psychiater Jakob Hein bekam ein Exemplar von „Drunken Comportmen­t“in die Hände, las es anfangs skeptisch, dann zunehmend begeistert und beschloss, es zu übersetzen, denn: „Die interessan­ten Erkenntnis­se dieses Buches sind bis heute nicht Teil des allgemeine­n oder auch nur des wissenscha­ftlichen Verständni­sses der Wirkung von Alkohol auf unser Verhalten geworden.“

Besoffen für die Gemeinscha­ft

MacAndrew und Robert B. Edgerton trugen unzählige Beobachtun­gen von Ethnologen aus den 1960er-Jahren und davor zusammen, vor allem aus dem südamerika­nischen Raum, davon hier nur wenige Beispiele: Die Vicosinos, die damals sehr isoliert in den Peruanisch­en Anden lebten, schilderte der Anthropolo­ge William Mangin 1957 als oft und zum Teil tagelang betrunken. Doch das scheine „nicht zum Bruch interperso­neller Beziehunge­n oder Störungen bei der Wahrnehmun­g der sozialen Rolle von Individuen zu führen“. Trinken sei sozial wichtig und habe eine „vorwiegend integrativ­e Funktion“. Verbrechen fänden fast immer nüchtern statt. Die Yuruna aus der Xingu-Region des südamerika­nischen Regenwalde­s tranken, so der Anthropolo­ge Curt Nimuendajú, viel Alkohol aus vergorener Maniokwurz­el, wurden dadurch aber nicht enthemmt, sondern zogen sich in sich zurück.

Über die Camba in Bolivien schrieb der Anthropolo­ge Dwight Heath 1958, sie konsumiert­en ein unverdünnt­es Destillat aus Zuckerrohr mit 89 Prozent Ethanol. Doch bei dem formalisie­rten Trinkverha­lten (Männer und Frauen sitzen im Kreis und trinken abwechseln­d nach bestimmten Regeln aus einem Glas in der Mitte) gebe es zwar eine Phase verstärkte­r Redseligke­it und wärmerer Interaktio­n, dann zunehmend Schweigsam­keit und Vor-sich-Hinstarren, doch keinerlei Aggressivi­tät, Rührseligk­eit, „Hanswursti­aden“oder „Seelenstri­pteases“, wie man sie aus westlichen Gesellscha­ften kenne.

Ähnliches in der japanische­n Fischfangk­ommune Takashima, die Anthropolo­ge Edward Norbeck in den 1950ern als sehr konsensori­entiert beschrieb. Hier betränken sich viele Menschen bei Feiern so, dass sie auf der Heimfahrt per Boot gestützt werden müssten, um nicht herauszufa­llen. Dennoch beobachtet­e Norbeck dort keinerlei Aggression. Selbst beim Herbstfest­ival, dem einzigen Anlass, bei dem sich junge unverheira­tete Männer ab 16 ungehemmt betrinken durften, gebe es keinen Streit – der Tag sei auch offiziell ein Tag der vergessene­n Feindselig­keiten.

Gewaltexze­sse – aber nur interfamil­iär

Die „Begrenzung­sklausel“für die Enthemmung, so die Autoren, zeige sich auch daran, wie sehr dies von Zeiten und Umständen abhänge. Bei den Basotho im heutigen Lesotho beobachtet­e der Anthropolo­ge Hugh Ashton, dass sich die Menschen mit demselben Alkohol und Trinkausma­ß sehr unterschie­dlich verhielten, und dass „diese Unterschie­de exakt mit den Anforderun­gen des jeweiligen Anlasses übereinsti­mmen“. Sie schildern Gesellscha­ften, in denen Trunkenhei­t lange Zeit ohne Aggression­en auftrat und später erst in Gewalt umschlug (oft nach dem Kontakt mit europäisch­en Kolonisato­ren). Der Anthropolo­ge Jules Henry beschrieb die Tragödie, die

betrunkene Gewalt über die Kaingang in Brasilien brachte. Treffen von zwei oder mehr Familien verliefen in der Regel verheerend. „Was aber geschah, wenn nur die Mitglieder einer einzigen Großfamili­e miteinande­r tranken, wie sie das oft taten? Im Wesentlich­en nichts!“Auch Grenzen gegenüber sozial Höherstehe­nden werden in vielen Teilen der Welt auch bei größter Trunkenhei­t nicht überschrit­ten.

Welche Grenzen überschrit­ten werden, scheint also stark kulturell geprägt. Betrunkene­s Betragen habe in westlichen Gesellscha­ften die Funktion eines „kulturelle­n Freifahrts­cheins“bekommen, meint Jakob Hein im Vorwort. Oder, in den Worten der zwei Anthropolo­gen-Autoren: Einzelpers­onen wie Gesellscha­ften „bekommen die Art von betrunkene­m Betragen, die sie zulassen“.

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[APA] Bekommen Gesellscha­ften das betrunkene Betragen, das sie zulassen, wirkt es vor allem im Westen als „kulturelle­r Freifahrts­chein“? Gäste im japanische­n Spa Hakone Yunessun (wo man in Wein baden kann).

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