Ist betrunkenes Betragen kulturell erlernt?
Alkohol und Gesellschaft. Das Verhalten im Rausch sei zu großen Teilen gesellschaftlich geprägt, die „Enthemmung“ein sehr europäisches Produkt, argumentierten US-Ethnologen schon vor einem halben Jahrhundert: eine Wiederentdeckung.
Alkohol verändert die Menschen, einiges daran ist biologisch recht zwangsläufig: die Verschlechterung des Gleichgewichtssinns etwa, der Motorik. Aber wie steht es mit anderen Verhaltensweisen, etwa der psychischen Enthemmung? Dass Menschen Opfer ihrer Triebe werden, soziale Grenzen überschreiten, aggressiv werden oder auch in endlose Bekenntnisse oder Rührseligkeit verfallen?
Da ist die Sache längst nicht mehr so klar. Das zeigt das erstmals auf Deutsch im Galiani-Verlag erschienene, packende Buch „Betrunkenes Betragen“der US-amerikanischen Ethnologen Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton. Es erschien bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert, wurde dann aber vergessen und fand nie in den deutschsprachigen Raum – was es nur noch interessanter macht. Der deutsche Autor und Psychiater Jakob Hein bekam ein Exemplar von „Drunken Comportment“in die Hände, las es anfangs skeptisch, dann zunehmend begeistert und beschloss, es zu übersetzen, denn: „Die interessanten Erkenntnisse dieses Buches sind bis heute nicht Teil des allgemeinen oder auch nur des wissenschaftlichen Verständnisses der Wirkung von Alkohol auf unser Verhalten geworden.“
Besoffen für die Gemeinschaft
MacAndrew und Robert B. Edgerton trugen unzählige Beobachtungen von Ethnologen aus den 1960er-Jahren und davor zusammen, vor allem aus dem südamerikanischen Raum, davon hier nur wenige Beispiele: Die Vicosinos, die damals sehr isoliert in den Peruanischen Anden lebten, schilderte der Anthropologe William Mangin 1957 als oft und zum Teil tagelang betrunken. Doch das scheine „nicht zum Bruch interpersoneller Beziehungen oder Störungen bei der Wahrnehmung der sozialen Rolle von Individuen zu führen“. Trinken sei sozial wichtig und habe eine „vorwiegend integrative Funktion“. Verbrechen fänden fast immer nüchtern statt. Die Yuruna aus der Xingu-Region des südamerikanischen Regenwaldes tranken, so der Anthropologe Curt Nimuendajú, viel Alkohol aus vergorener Maniokwurzel, wurden dadurch aber nicht enthemmt, sondern zogen sich in sich zurück.
Über die Camba in Bolivien schrieb der Anthropologe Dwight Heath 1958, sie konsumierten ein unverdünntes Destillat aus Zuckerrohr mit 89 Prozent Ethanol. Doch bei dem formalisierten Trinkverhalten (Männer und Frauen sitzen im Kreis und trinken abwechselnd nach bestimmten Regeln aus einem Glas in der Mitte) gebe es zwar eine Phase verstärkter Redseligkeit und wärmerer Interaktion, dann zunehmend Schweigsamkeit und Vor-sich-Hinstarren, doch keinerlei Aggressivität, Rührseligkeit, „Hanswurstiaden“oder „Seelenstripteases“, wie man sie aus westlichen Gesellschaften kenne.
Ähnliches in der japanischen Fischfangkommune Takashima, die Anthropologe Edward Norbeck in den 1950ern als sehr konsensorientiert beschrieb. Hier betränken sich viele Menschen bei Feiern so, dass sie auf der Heimfahrt per Boot gestützt werden müssten, um nicht herauszufallen. Dennoch beobachtete Norbeck dort keinerlei Aggression. Selbst beim Herbstfestival, dem einzigen Anlass, bei dem sich junge unverheiratete Männer ab 16 ungehemmt betrinken durften, gebe es keinen Streit – der Tag sei auch offiziell ein Tag der vergessenen Feindseligkeiten.
Gewaltexzesse – aber nur interfamiliär
Die „Begrenzungsklausel“für die Enthemmung, so die Autoren, zeige sich auch daran, wie sehr dies von Zeiten und Umständen abhänge. Bei den Basotho im heutigen Lesotho beobachtete der Anthropologe Hugh Ashton, dass sich die Menschen mit demselben Alkohol und Trinkausmaß sehr unterschiedlich verhielten, und dass „diese Unterschiede exakt mit den Anforderungen des jeweiligen Anlasses übereinstimmen“. Sie schildern Gesellschaften, in denen Trunkenheit lange Zeit ohne Aggressionen auftrat und später erst in Gewalt umschlug (oft nach dem Kontakt mit europäischen Kolonisatoren). Der Anthropologe Jules Henry beschrieb die Tragödie, die
betrunkene Gewalt über die Kaingang in Brasilien brachte. Treffen von zwei oder mehr Familien verliefen in der Regel verheerend. „Was aber geschah, wenn nur die Mitglieder einer einzigen Großfamilie miteinander tranken, wie sie das oft taten? Im Wesentlichen nichts!“Auch Grenzen gegenüber sozial Höherstehenden werden in vielen Teilen der Welt auch bei größter Trunkenheit nicht überschritten.
Welche Grenzen überschritten werden, scheint also stark kulturell geprägt. Betrunkenes Betragen habe in westlichen Gesellschaften die Funktion eines „kulturellen Freifahrtscheins“bekommen, meint Jakob Hein im Vorwort. Oder, in den Worten der zwei Anthropologen-Autoren: Einzelpersonen wie Gesellschaften „bekommen die Art von betrunkenem Betragen, die sie zulassen“.