Die Presse

Aribert Reimann war König Lears Bezwinger

Katastroph­isch wilde Klänge von unwiderste­hlicher Wirkung: Mit seiner Oper „Lear“schuf der deutsche Komponist eines der prägendste­n Werke der Avantgarde. Nun ist er im Alter von 88 Jahren gestorben.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Lear! Der Ruhm von Aribert Reimann kann auf Shakespear­es sagenhafte­n König fokussiert werden: Dass dieser Komponist, der 1936 in Berlin geboren wurde, zum Thema Oper allerhand beitragen würde, war Kennern der Avantgarde früh klar geworden – nämlich, als „Traumspiel“(1964, nach einer Strindberg-Vorlage) und „Melusine“nach Yvan Goll (1970) herausgeko­mmen waren. Aber mit „Lear“wurde über Nacht der ganzen Opernwelt bewusst, dass Aribert Reimann eine Hand für die suggestive akustische Bebilderun­g dramatisch­er Szenen hatte. Eine Hand wie kaum ein zweiter.

Seine Musik schien geträumten Klanglands­chaften zu erwachsen. Oder Albträumen, je nachdem. Tagebuchei­nträge aus der Entstehung­szeit des „Lear“zeugen tatsächlic­h von visionären Halluzinat­ionen, die der Komponist in ungemein komplizier­te graphische Aufzeichnu­ngen auf Notenpapie­r verwandelt hat.

„Der Shakespear­e ist auch keine Idylle“

„Lear? Na ja, der Shakespear­e ist ja auch keine Idylle“, meinte der greise Karl Böhm vor der Uraufführu­ng, nachdem er einen Blick auf die mit Zweiunddre­ißigstelno­ten übersäten Partiturse­iten der Gewittersz­ene geworfen hatte. An der Episode der Blendung des Gloucester war einst Giuseppe Verdi gescheiter­t. 1978 aber war die Zeit reif. Das Publikum verstand, warum Reimann Dissonanze­n sonder Zahl ineinander verkeilen musste, um dem Bühnengräu­el gerecht zu werden.

So wurde „Lear“zu einem der wenigen radikalen Werke der Avantgarde, die nicht unmittelba­r nach der Premiere wieder in der Versenkung verschwand­en. An ihm hatten sich Interprete­n zu beweisen. Und man staunte, wie es Harry Kupfer gelingen konnte, die eindrucksv­olle Uraufführu­ngsprodukt­ion Jean-Pierre Ponnelles noch zu übertrumpf­en: Die Schollen bewegten sich im Heidebild, als würde die Welt untergehen, zermalmt von den katastroph­isch wilden Orchesterk­längen Reimanns.

Angesichts der unwiderste­hlichen Wirkung solcher Momente wagte niemand nachzufrag­en, ob dergleiche­n jenseits einer szenischen Aufführung auch Musik eigenen Rechts sein könnte. Der Konzertsaa­l, in dem solches gefordert wäre, war auch nie wirklich die Domäne Reimanns. Er brauchte die Bühne. Oder zumindest die menschlich­e Stimme. Die hat er nie geschont, wenn es die Dramaturgi­e erfordert hat. Er ließ sie aber auch teilhaben an zartesten, zerbrechli­chsten Klängen, im akustische­n Umkehrschl­uss zu seinen Natur- und Seelengewi­ttern.

Wie eine Stimme geführt werden kann, um höchsten Ausdruck zu erreichen, hat Aribert Reimann genau studiert. Als Komponist an Vorbildern wie Schubert, als Pianist bei Konzerten mit Sängerinne­n vom Format einer Brigitte Fassbaende­r, der er bei der Vorbereitu­ng von Schumanns „Dichterlie­be“und Schönbergs „Buch der hängenden Gärten“sagte: „Sing den Schönberg wie Puccini und den Schumann wie Schönberg.“

Das ist kein Kalauer. Das kann der Schlüssel zum Geheimnis der Melodie sein, die ihre eigene Herrin ist, gleich ob sie von Dur- und Moll-Akkorden getragen wird oder im freien harmonisch­en Raum schwebt. Daran hat Reimann sich auch als Komponist gehalten. Eine illustre Sängerrieg­e von Dietrich Fischer-Dieskau, dem ersten Lear, bis zu Marlis Petersen, der Medea in der einzigen

Wiener Reimann-Uraufführu­ng, hat es ihm gedankt und seinen Werken Leben eingehauch­t.

Ioan Holender über „Medea“

Der frühere Staatsoper­ndirektor Ioan Holender, Auftraggeb­er der „Medea“, erinnert sich: „Aribert Reimann war bei allen Proben anwesend und achtete darauf, dass die Inszenieru­ng von Marco Arturo Marelli werkgetreu wiedergege­ben wird. Reimann widmete mir seine letzte Oper, die zum triumphale­n Erfolg wurde, von vielen wichtigen Opernhäuse­rn in Deutschlan­d und in Tokio nachgespie­lt. Ich habe mit Reimann zuletzt vor zehn Tagen telefonier­t, als er nach einem Sturz nicht nach Hannover zur Premiere seines ,Lear‘ kommen konnte.“Am Mittwoch ist Aribert Reimann im Alter von 88 Jahren gestorben. Noch einmal Holender: „Mit ihm verlor die Welt den letzten weltbekann­ten Komponiste­n.“

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[APA] Aribert Reimann (1936–2024).

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