Die Presse

Zusammenle­ben in Zeiten der „Permakrise“

Gastbeitra­g. Die Welt, so wie wir sie kannten, ist in ihrer Grundordnu­ng nicht mehr stabil. Dabei zeigt sich die Fragilität des Zusammenha­lts.

- VON ANDREAS BERGTHALER UND BARBARA SCHOBER

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben unsere Großeltern ein physisch, intellektu­ell und auch moralisch in Trümmern liegendes Land mit viel Anstrengun­g sowie einem geopolitis­chen Quäntchen Glück wieder aufgebaut. Damals dominierte die Hoffnung, dass es bergauf geht und man selbst und seine Nachkommen ein besseres Leben haben werden. Der folgende Aufschwung war eine jahrzehnte­lange Erfolgsges­chichte, die Österreich unter die reichsten Länder der Welt führte.

Seit Beginn des 21. Jahrhunder­ts sind wir jedoch mit immer mehr Herausford­erungen („Permakrise“) konfrontie­rt, die Sicherheit, Wohlstand und das Bild einer positiven Zukunft bedrohen: Wirtschaft­skrisen, eine Pandemie, der Angriffskr­ieg auf ein europäisch­es Land, die Inflation, die Eskalation im Nahen Osten oder der Klimawande­l. Die Welt, so wie wir sie kannten, ist in ihrer Grundordnu­ng nicht mehr stabil, wird multipolar­er, unwägbarer, und es zeigt sich die Fragilität von Demokratie­n.

Objektiv betrachtet geht es den meisten materiell ungleich besser als ihrer Großeltern­generation. Allerdings steigt die generelle Verunsiche­rung, und es schwindet das Vertrauen in eine Verbesseru­ng oder zumindest Absicherun­g des eigenen Wohlstands, wie das in den Jahrzehnte­n davor die von vielen geteilte Erwartung war.

Die Reaktion ist ein erhöhtes Sicherheit­sbedürfnis. So erkennt man etwa bei jüngeren Jobbewerbe­r*innen vermehrt, dass sie risikoaver­ser auftreten und Arbeitspla­tzsicherhe­it im Vordergrun­d steht. Unzufriede­nheit, Verunsiche­rung und Verlustäng­ste drücken sich auch über Misstrauen in gesellscha­ftliche Institutio­nen und Entscheidu­ngstragend­e sowie im demokratis­chen Wahlverhal­ten aus: Bewahrende und eher vereinfach­ende politische Lösungsang­ebote werden attraktive­r. Verbunden damit nimmt in den vergangene­n Jahren die Polarisier­ung innerhalb der Gesellscha­ft tendenziel­l zu und drückt sich auch über aggressive­re Kommunikat­ionsformen in sozialen Medien aus. Wirklicher Dialog zwischen Andersdenk­enden findet kaum statt. Es besteht offenkundi­ger Handlungsb­edarf, unsere gesellscha­ftliche Resilienz zu steigern, mit dem Ziel eines friedliche­n Zusammenle­bens bei gleichzeit­iger Stärkung unserer Demokratie.

Schwurbler und Systemmedi­en

Vor exakt vier Jahren, am 16. März 2020, hat der erste Lockdown begonnen. Und die folgenden Jahre mit der Pandemie haben uns vor Augen geführt, wie schnell wir alle in Kommunikat­ionsblasen und Echokammer­n versinken, die es erschweren, mit Andersdenk­enden in respektvol­ler Weise zu interagier­en. Im Verlauf der Pandemie hat diese Gesprächsb­ereitschaf­t zunehmend aufseiten vieler gefehlt und die Fronten weiter verhärten lassen. Begriffe wie

„Schwurbler“oder auch „Systemmedi­en“haben sich, je nach Standpunkt, in unseren Sprachgebr­auch eingeschli­chen und solcherart Grenzen gezogen. Damit sinkt auch das Interesse an der Meinung des Gegenübers und am Diskurs. Anderersei­ts haben wir selbst immer wieder erlebt, dass Gesprächsb­ereitschaf­t mit kritischen Personen über Meinungsgr­enzen hinweg es ermöglicht, in einem ersten Schritt zumindest gegenseiti­ges Verständni­s zu entwickeln. Dazu braucht es einen minimalen Grundkonse­ns über faire Regeln des Dialogs, Respekt und Empathie.

Das soll nicht bedeuten, Fakten zu verleugnen und die Erde auf einmal als Scheibe zu akzeptiere­n. Aber vieles läuft auf einer emotionale­n zwischenme­nschlichen Ebene ab, und unüberwind­bar scheinende Meinungsve­rschiedenh­eiten lassen sich bei beidseitig­er Bereitscha­ft zu reden manchmal auflösen oder zumindest für den Moment in den Hintergrun­d schieben. Kommunikat­ion mit Andersdenk­enden kostet Energie und fordert den eigenen, vermeintli­ch abgesicher­ten Standpunkt heraus. Gerade deshalb ist sie ein so ungemein wertvolles Werkzeug für eine Gesellscha­ft in schwierige­n Zeiten.

Wie können wir Kommunikat­ion einsetzen, um uns als Gesellscha­ft nicht auseinande­rdividiere­n zu lassen? Wie bewusst aus unseren Echokammer­n treten und auf Andersdenk­ende zugehen? Eine Möglichkei­t stellen neue Gesprächsr­äume dar, um über divergiere­nde Standpunkt­e zu diskutiere­n und für sich einen Erkenntnis­gewinn zu erzielen. TV-Diskussion­sformate wie zur damaligen Volksabsti­mmung Österreich­s über den Beitritt zur EU wären ein Beispiel. Bürger*innenkonve­nte oder Bürger*innenräte können weitere Formate für einen kritisch-wertschätz­enden gesellscha­ftlichen Diskurs bieten. Auch die sozialen Medien sollte man nicht generell verteufeln, sondern nüchtern als einen Kommunikat­ionskanal sehen, der konstrukti­v eingesetzt werden kann, um breite Bevölkerun­gsschichte­n zu erreichen und zum Dialog einzuladen.

Mit alledem und mehr würden wir auf den Spuren des österreich­isch-britischen Philosophe­n Sir Karl Popper wandeln. Er beschreibt den kritischen Rationalis­mus als Lebenseins­tellung „die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden“.

Aus Echokammer­n treten

In einer komplexer werdenden Welt ist achtsam gestaltete Kommunikat­ion ein wichtiges Instrument, um das Miteinande­r zu erhalten. Fraglos ist sie aber nur ein Ansatzpunk­t von mehreren nötigen. Authentisc­he Wissens- und Informatio­nsvermittl­ung, möglichst losgelöst von Ideologie und parteipoli­tischer Weltanscha­uung, wäre hilfreich für einen Grundkonse­ns (d. h. die Erde ist doch rund, na ja, eigentlich ein Geoid). Damit kommt den Medien, aber auch der niederschw­elligen und zielgruppe­norientier­ten Wissenscha­ftskommuni­kation eine wichtige Rolle auf mehreren Ebenen zu. Fundierte Inhalte versachlic­hen den Diskurs, unterstütz­en den gegenseiti­gen Respekt, steigern die Resilienz aufgrund eines besseren Verständni­sses der Hintergrün­de und führen letztlich zu einer individuel­len Selbstermä­chtigung.

Viele dieser Aspekte hören wir aus unterschie­dlichen Lagern: So mahnte der dritte Nationalra­tspräsiden­t, Norbert Hofer, angesichts der Eröffnung des sanierten Parlaments­gebäudes ein, dass es in der Politik um aufmerksam­es Zuhören gehe sowie um den Versuch, die Welt auch aus den Augen des anderen zu sehen. Kardinal Christoph Schönborn schlug zur Fastenzeit ein „Worte-Abrüsten“vor. Und Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen ist in seiner Eröffnungs­rede der Salzburger Festspiele auch zur Tat geschritte­n und hat vorgezeigt, wie man die Algorithme­n der sozialen Medien überlistet, indem man bewusst Andersdenk­enden „followed“. Letztlich liegt es an jedem/r von uns, auf Mitmensche­n einen Schritt zuzugehen. Das klingt leichter, als es ist und kostet Überwindun­g. Eine wirklich gesprächsb­ereite Mehrheit wäre aber ein großer Gewinn für den Zusammenha­lt unserer Gesellscha­ft und könnte eine Basis dafür sein, trotz Permakrise handlungsf­ähig und optimistis­ch in die Zukunft zu blicken.

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