Herrn Putins Angriff auf unsere illusionäre Traumwelt
Milliarden, die für Klimapolitik und Hochrüstung ausgegeben werden, müssen anderswo eingespart werden. Und da gibt es nur eine Möglichkeit.
Es war ein ziemlich bemerkenswerter Satz, den Joschka Fischer, ehemals deutscher Außenminister und heute gefragter Welterklärer, jüngst in einem Essay niederschrieb: „Wohlstand, wirtschaftliche Modernisierung und soziale Sicherheit bleiben wichtig, aber in Zukunft wird Sicherheit an der Spitze der europäischen Agenda stehen müssen.“
Angesichts der Bedrohung Europas durch ein extrem aggressives Russland, die wohl noch für längere Zeit anhalten, wenn nicht sogar zunehmen wird, bedeutet Fischers Forderung vor allem eine Neuordnung der finanziellen Prioritäten in den Staatshaushalten: eine dramatische Erhöhung der Militärbudgets, im Zweifel zulasten der Ausgaben für den Sozialstaat. Wenn Sicherheit – gemeint ist hier militärische Sicherheit – künftig an erster Stelle steht, dann folgt daraus zwingend, dass dies auf Kosten des Wohlstands gehen wird. Heißt: Gürtel enger schnallen für alle.
Herr Fischer kann es sich leisten, diese bittere Wahrheit auszusprechen, weil er nicht mehr gewählt werden kann und muss. Das erleichtert den Verzicht auf Worthülsen und Herumgerede erheblich. Seine noch aktiven Kollegen tun sich da naturgemäß schwerer. Das liegt daran, dass sie zwar wissen, was die Lösung des Problems ist – siehe oben –, aber nicht, wie sie wiedergewählt werden können, wenn sie das auch sagen. Und so lebt vor allem das westliche, viel weniger das östliche Europa in einer Art von illusionärer Traumwelt. Allen ist klar, dass jetzt ein bisschen mehr Geld für die jahrzehntelang ausgehungerten Armeen ausgegeben werden muss – aber die politisch Verantwortlichen scheuen davor zurück, auszusprechen, was das bedeutet.
Das Problem wird in den nächsten Jahren noch verschärft werden durch zwei andere Entwicklungen: einerseits, dass aufgrund der demografischen Entwicklung immer weniger Erwerbstätige diese zusätzlichen Kosten werden stemmen müssen – und andererseits die finanziellen Folgen des Kampfes gegen den Klimawandel, der tendenziell ja auch Wohlstandseinbußen bringt.
Wie das alles bei gleichzeitiger Priorisierung der militärischen Sicherheit finanziert werden soll, ohne auf der anderen Seite etwa den Sozialstaat massiv rückzubauen, das erschließt sich auch fantasiebegabten Menschen nicht. Dabei ist das hier zugrunde gelegte Szenario nicht einmal besonders pessimistisch, denn es kalkuliert keinerlei unangenehme Überraschungen ein, wie sie seit Jahren dauern aufpoppen, von Corona bis Ukraine und Nahost.
Man braucht keine üppige Fantasie zu haben, um sich auszurechnen, wie die Verantwortungsträger in Europa versuchen werden, dieses Problem zu lösen: Indem sie, entgegen allen Verträgen, Versprechen und Vereinbarungen, gemeinsame europäische Schulden aufnehmen, als gäbe es kein Morgen. Schon wird in Brüssel darüber gesprochen, angesichts der militärischen Notwendigkeiten ein gewaltiges Schuldenpaket zu schnüren, ähnlich jenem einmaligen nach der Corona-Epidemie.
Ich glaube, dass es höchste Zeit wäre, die Probleme nicht weiter den nächsten Generationen umzuhängen, die sich dagegen nicht wehren können, sondern endlich klar Schiff zu machen und dem Wähler zu erklären, was Sache ist. Warum man nicht gleichzeitig Abermilliarden in die Sicherheit pumpen, den Sozialstaat weiter aufblähen und den Wohlstand des Einzelnen aufrechterhalten kann. Auch einfach gestrickte Zeitgenossen werden vermutlich begreifen, dass das so ist, und harte Zeiten eben auch Zeiten des Verzichts sind.
Nach Jahrzehnten des Lebens in einer „Susi-Sorglos-Gesellschaft“, die dem Einzelnen nahezu jedes Lebensrisiko abzunehmen versucht, wird das Aufstechen der Illusionsblase trotzdem nicht ganz einfach sein. Aber es gibt im Grunde keine Alternative dazu. Jedenfalls keine, die nicht daraus besteht, das Problem zu verdrängen und töricht darauf zu hoffen, dass schon nichts passieren wird.
‘‘ Es ist klar, was getan werden muss – aber die politisch Verantwortlichen scheuen davor zurück, auszusprechen, was das bedeutet.