Der gekränkte Putin
Bis Sonntag stimmt Russland formal über seinen nächsten Präsidenten ab. Beim mehrtägigen Wahlevent lässt sich der Amtsinhaber bestätigen. Wie wurde Wladimir Putin zu dem, der er heute ist?
Es gibt da diese Szene, vor sechs Jahren bereits. Auch damals ist Wladimir Putin vor einer Präsidentschaftswahl gestanden. Russlands Präsident braucht solche Volksentscheide, um den Nachweis zu erbringen, dass das Volk hinter ihm stehe. Diesmal dürfen die Menschen ihm gleich drei Tagen Beifall zollen, von Freitag bis Sonntag. „2024. Russland. Putin“ist sein Slogan bei einer Wahl, die keine Wahl zulässt.
Das war auch 2018 schon so. Kurz vor jenem Plebiszit trat Putin damals vor eine blaue Wand in der Moskauer Manege, einer früheren Paradehalle für Reitvorführungen, und sagte, während hinter ihm Filmchen von Interkontinentalraketen und Hyperschallwaffen aus russischer Produktion liefen: „Niemand wollte mit uns sprechen. Niemand hat uns zugehört. Hört uns jetzt zu!“Hier hat einer gesprochen, der tief gekränkt worden ist, ein „Obischenny“, wie die Russen sagen. Und er hat diese Kränkung („Obida“) längst zum zentralen Motiv seines Handelns gemacht. Einer Politik, die auf rohe Gewalt setzt.
Keine Rede mehr davon wie noch 2001, als Putin, keine zwei Jahre an der Macht im Kreml, auf Deutsch im Bundestag die ewige Freundschaft mit Europa geschworen hat. Diese Vision ist mittlerweile in bittere Feindschaft umgeschlagen, schleichend, aber nicht verschleiert.
„Verweichlichtes Gayropa“
Europa ist für den russischen Herrscher, der sich während der Covid-Pandemie in der Einsamkeit seines Bunkers immer tiefer auf Verschwörungstheorien von lange Zeit unbekannten russischen Religionsphilosophen eingelassen hat, ein verweichlichter Kontinent. Ein dekadentes, entmännlichtes „Gayropa“, wie viele in Russland verächtlich sagen. Moskau dagegen gibt sich maskulin. Das Toxische dabei nimmt es bewusst in Kauf und feiert mit seinen Panzern und Raketen – nun nicht nur in Filmchen auf Leinwänden gezeigt, sondern in der Ukraine real eingesetzt – rigoros seinen Abschied von Europa, zu dem Russland kulturell jahrhundertelang gehört hat und auch weiterhin gehört. Mit dem Westen gebrochen hat Putin bereits 2007 mit seiner Brandrede bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Wie eine programmatische Grundsatzerklärung kamen die wuchtigen Worte schon damals daher, mit denen er vor allem die USA anfuhr.
2018 wirkte Putins Rede an die Nation in der „Manege“nochmals wie ein selbstbewusst vorgetragenes „Wir gehen unseren eigenen Weg“, ein „Wir sind mächtig, und ihr könnt uns nichts“. Zwei Jahre später ließ er sich mit einer Verfassungsreform weitere Herrscherjahre zusichern. Heute zeigt sich, dass der 71-Jährige für seinen Machterhalt alles in Kauf nimmt, auch die Tatsache, dass er durch seine allseitige Mobilisierung für den Krieg auch sein eigenes Land aufs Spiel setzt. Wirtschaftlich mag Russland gerade Gewinne einfahren. Doch um welchen Preis floriert das Land? Es ist der Krieg, der vorantreibt. Die einzige Vision, die Putin zu bieten hat, ist der Kult des Todes. „Sterben müssen wir alle“, hat er einst Angehörigen von Gefallenen in der Ukraine gesagt und ihnen dargelegt, dass ihre Söhne, Männer und Brüder Helden seien.
Es ist eine verkehrte Welt, die sich unter Putin seit Langem offenbart. Er begann seine Amtszeit als Wirtschaftsreformer. Nach zehn Jahren war die Wirtschaftsleistung Russ
lands verachtfacht und betrug 2010 etwa 1,9 Billionen Dollar. Die Finanzkrise überstand Russland besser als andere Länder, auch ohne Diversifizierung. Den wirtschaftlichen Aufschwung rechneten die Menschen Putin hoch an. Viele aber wollten mehr als das bessere Einkommen, sie wollten politische Teilhabe – dafür gingen sie 2011/2012 zu Hunderttausenden auf die Straße. Putin ließ sich davon nicht beirren und zog nach seiner Zeit als Ministerpräsident wieder als Präsident in den Kreml ein. Die Rochade war gut inszeniert. Das Regime sah und sieht das Volk als Objekt. Jeder, der zum politischen Subjekt zu werden versucht, landet heute auf der Anklagebank und danach nicht selten in der Strafkolonie. Am eindeutigsten zeigte sich das am – vergifteten und schließlich hinter dem Polarkreis plötzlich aus dem Leben geschiedenen – Oppositionspolitiker Alexej Nawalny.
Das Regime Putin erträgt keinen, der sich selbstbestimmt für die eigenen Werte und Überzeugungen einsetzt. Der alternde Präsident sieht niemanden gern, der nicht nach seinen Regeln spielt. Das hat nicht nur Nawalny zu spüren bekommen, sondern auch der Söldnerführer Jewgenij Prigoschin etwa, ein alles andere als auf Frieden und Freiheit eingestellter Typ. Sein offenes Herausfordern Putins führte zum öffentlichkeitswirksamen Sturz vom Himmel.
„Schwache schlägt man“
Putin hatte nie gelernt zurückzuweichen. In den Hinterhöfen von Leningrad steckte er, der von den malochenden Eltern nicht Gewollte, Prügel ein, er teilte auch Prügel aus. Im Judo perfektionierte er den Körpereinsatz, sein Trainer sah ihn bei der Polizei, Putin wählte schließlich den KGB. Geheimdienstler ist er bis heute geblieben, auch wenn das Staatssicherheitskomitee seit dem Zerfall der Sowjetunion – für Putin die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie er in einer Rede von 2005 gesagt hat – nicht mehr KGB, sondern FSB heißt. Die Zentrale ist immer noch dort, wo sie bereits zu Zeiten Lenins und Stalins war.
„Die Schwachen schlägt man“, sagt Putin immer wieder gern. Aus dem jugendlichen „Pazan“, dem Burschen, der in der Heimatstadt gelernt hat, als Erster zuzuhauen, ist längst der grobe „Muschik“geworden, ein chauvinistischer Macho. Viele Russinnen und Russen lieben ihn dafür, er habe der ganzen Welt gezeigt, dass sie noch jemand seien, wiederholen sie wie hypnotisiert.