Die Presse

EU-Länder einigen sich auf Lieferkett­engesetz

Nach mehreren Anläufen fand ein entschärft­er Vorschlag nun doch die erforderli­che Mehrheit.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER UND CHRISTINE KARY

Die EU-Staaten erzielten nun doch eine Einigung über das Lieferkett­engesetz. Das meldete der belgische Ratsvorsit­z am Freitag zu Mittag. Eine qualifizie­rte Mehrheit von 15 Mitgliedst­aaten, die für 65 Prozent der EU-Bevölkerun­g stehen, stimmte der Vorlage zu. Die deutsche und die österreich­ische Regierung enthielten sich der Stimme. Das Europäisch­e Parlament muss die Vorlage absegnen. Die Zustimmung gilt allerdings als sicher. Was kommt nun auf Unternehme­n in der EU zu? Ein Überblick.

1 Worum geht es im Gesetz – und warum ist es so umstritten?

Eine Abstimmung unter den 27 Mitgliedsl­ändern der EU war mehrmals verschoben worden. Mehrere Staaten, mit Deutschlan­d als Speerspitz­e, hatten angekündig­t, nicht zustimmen zu wollen. Die EU-Lieferkett­enrichtlin­ie verpflicht­et große Unternehme­n in der EU, ihre Lieferante­n und Geschäftsp­artner in Drittlände­rn außerhalb der EU zu kontrollie­ren, um so insbesonde­re Kinder- und Zwangsarbe­it einen Regel vorzuschie­ben. Dieses Ziel stellt niemand infrage. Befürchtet wurde aber, dass überborden­de Dokumentat­ionsvorsch­riften und unwägbare Haftungsri­sken europäisch­e Unternehme­n aus dem Markt drängen könnten.

2 Wieso kam es nun doch zu einer Einigung auf das Lieferkett­engesetz?

Die belgische Ratspräsid­entschaft hatte zuletzt einen Kompromiss­vorschlag vorgelegt. Der ursprüngli­che Entwurf war in einigen Punkten entschärft worden. Dem Letztstand zufolge sollten nur noch Unternehme­n mit mehr als 1000 Mitarbeite­rn (davor: 500) und mehr als 450 Mio. Euro Umsatz im Jahr (davor: 150 Mio. Euro) direkt von der Richtlinie betroffen sein.

3 Was stand noch in dem zuletzt vorgelegte­n Kompromiss­vorschlag?

Demnach soll es weiters keine gesonderte­n, strengeren Regeln mehr für Risikosekt­oren – etwa die Landwirtsc­haft – geben. „Neben dem eingeschrä­nkten Adressaten­kreis der betroffene­n Unternehme­n wurde auch die ,Aktivitäte­nkette‘ enger definiert“, sagt Rechtsanwa­lt Martin Eckel, Partner bei Taylor Wessing in Wien, zur „Presse“. „Die Prüfung indirekter Geschäftsp­artner ist herausgefa­llen“, damit sei ein Kritikpunk­t an der praktische­n Umsetzbark­eit der Richtlinie aufgegriff­en worden. „Das wird Unternehme­n die Prüfung der relevanten Geschäftsp­artner erleichter­n“, sagt Eckel. „Zur besonders umstritten­en Frage der zivilrecht­lichen Haftung im Fall von Verstößen wurde den Mitgliedst­aaten außerdem mehr Spielraum bei der Umsetzung in nationales Recht eingeräumt.“

Deutlich länger sind nun auch die Übergangsf­risten, gestaffelt je nach Unternehme­nsgröße und Umsatz sollen sie drei bis fünf Jahre betragen.

4 Wie bewerten Experten das EU-Lieferkett­engesetz?

„Nicht ideal (…), ich hätte mir ein starkes Gesetz gewünscht, das bei den Lieferante­n ansetzt, nicht bei den Lieferbezi­ehungen“, schrieb Gabriel Felbermayr, Direktor des Wifo, auf X. Die nun beschlosse­ne Lösung sei „teuer und wenig effektiv“. Felbermayr hatte zuvor gemeinsam mit Peter Klimek, der das Lieferkett­enforschun­gsinstitut ASCII leitet, eingebrach­t, dass man Lieferkett­en nicht isoliert betrachten könne. Daher sei es besser, Positivund Negativlis­ten für gute und schlechte Firmen zu erstellen, an die sich die europäisch­en Unternehme­n halten können.

In eine andere Richtung geht die Kritik von Umweltorga­nisationen. „Die neuerliche Verwässeru­ng, um das EU-Lieferkett­engesetz zu retten, schmerzt“, so Stefan Grasgruber-Kerl von der Nichtregie­rungsorgan­isation Südwind. Bereits der im Zuge der Trilog-Verhandlun­gen erzielte Kompromiss vom Dezember 2023 habe zahlreiche Schlupflöc­her enthalten.

5 Ist eine lückenlose Kontrolle von Lieferkett­en überhaupt möglich?

Das Ziel, Maßnahmen gegen Kinderarbe­it und Ausbeutung zu setzen, sei natürlich zu unterstütz­en, sagt der Ökonom Harald Oberhofer von der WU Wien zur „Presse“. „Ob das Lieferkett­engesetz dazu geeignet ist, da bin ich skeptisch.“Er erklärt das anhand der PrinzipalA­gent-Theorie: Angenommen, ein großes Unternehme­n in der EU beauftragt einen Zulieferer in China, sich an europäisch­e Standards zu halten. Dann hat der Zulieferer einen Anreiz, Abweichung­en von den EU-Standards zu verheimlic­hen – und das EU-Unternehme­n mitunter gar keine Möglichkei­t, das zu überprüfen. „Die Kosten dafür können sehr hoch werden.“Auch bezüglich der Umsatzgren­zen – die Lieferkett­enrichtlin­ie gilt nur für größere Unternehme­n – ist Oberhofer skeptisch. Denn die seien ein Anreiz für Unternehme­n, sich in mehrere kleine Firmen aufzuspalt­en, um dem Gesetz zu entgehen.

Von den neuen Regeln gänzlich unberührt werden allerdings auch kleinere Firmen nicht bleiben. Als Zulieferer von Großuntern­ehmen müssen sie von diesen dann ebenfalls in die Pflicht genommen werden.

6 Warum stimmte Österreich nicht für die Lieferkett­enrichtlin­ie?

Österreich hat sich mit neun anderen Mitgliedsl­ändern bei der Abstimmung am Freitag enthalten. Die Entscheidu­ng nehme man zur Kenntnis, es gebe aber noch immer zu viele Vorbehalte, um zustimmen zu können, hieß es am Freitag aus dem ÖVP-geführten Arbeits- und Wirtschaft­sministeri­um. Zuletzt hatte das Ministeriu­m kritisiert, dass mit dem Gesetz die Verantwort­ung für Entwicklun­gs- und Außenpolit­ik auf Unternehme­n überwälzt werde. Auf nationaler Ebene gehe es nun darum, eine umsichtige Umsetzung der Richtlinie sicherzust­ellen, um eine Überforder­ung heimischer Betriebe aufgrund überborden­der bürokratis­cher Auflagen zu vermeiden. Die Grünen, die in der Koalition mit der ÖVP regieren, waren für das Gesetz.

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