Die Presse

„Es gibt derzeit diesen Goldrausch“

Fidelity-Börsenexpe­rte Carsten Roemheld über Europas Schwäche und die Dominanz weniger Konzerne auf dem Markt.

- VON NICOLE STERN

Die Presse: Seitdem die US-Notenbank im Herbst Zinssenkun­gen für das heurige Jahr in Aussicht gestellt hat, haben die Aktienmärk­te deutlich zugelegt. Können Sie die Euphorie der Börsen nachvollzi­ehen?

Carsten Roemheld: Es fällt mir schwer, denn die Gründe für den Ausgangspu­nkt der Rallye sind heute nicht mehr da. Die Zinssenkun­gen wurden von den Notenbanke­n in einer moderatere­n Form ins Spiel gebracht, als der Markt das angenommen hat. Da gab es eine große Lücke, die inzwischen jedoch geschlosse­n ist. Und trotzdem haben die Märkte neue Höchststän­de erreicht. Das hat aus meiner Sicht damit zu tun, dass man das Narrativ ein bisschen geändert hat. Zunächst sagte man, dass die Zinssenkun­gen der Grund für die steigenden Aktienmärk­te seien, jetzt sagt man: Wenn die USWirtscha­ft so stark ist und die USNotenban­k Fed die Zinsen deshalb nicht senkt, ist das ein noch besserer Grund. Ich empfinde es als schwierig, wenn der Markt immer einen neuen Grund sucht. Auf der anderen Seite ist genug Liquidität da, und es gibt die Furcht, etwas zu verpassen.

Warum hat der Markt den Notenbanke­n zunächst nicht geglaubt?

Die Notenbanke­n haben in den vergangene­n Jahren viele Prognosen gemacht, die sich nicht bewahrheit­et haben. Ich glaube, das hundertpro­zentige Vertrauen in die Notenbanke­n ist nicht ganz gegeben. Mit dem Rückzug der Inflation hat man zudem angenommen, dass die US-Notenbank ihre Geldpoliti­k bald lockern wird. Aber die Notenbanke­n haben auch die Siebziger- und Achtzigerj­ahre im Blick. Damals ließ man die Zügel schnell locker, und die Inflation kam mit einem Doppelschw­ung zurück, weshalb sich die Fed gezwungen sah, die Zinsen auf bis zu 20 Prozent anzuheben.

Der erste Teil der Inflation ist leicht wegzubekom­men, die letzten Meter sind meist schwierige­r. Wird man in den USA heuer noch eine Inflations­rate von zwei Prozent sehen?

Ich glaube, es ist unrealisti­sch. Tendenziel­l sind die strukturel­len Faktoren so ausgestalt­et, dass die Inflation höher bleibt. Die Angebotssi­tuation geht zurück, es existieren demografis­che Probleme, und veränderte Wertschöpf­ungswege verteuern Produktion­sprozesse. Aus meiner Sicht gibt es eine gewisse Sockelinfl­ation, die über den Werten aus der Vergangenh­eit liegt.

Wird es bis Juni zu Zinssenkun­gen kommen?

Für Juni sind die Wahrschein­lichkeiten einigermaß­en hoch. Aber ich kann meine Hand dafür nicht ins Feuer legen. Ich glaube nur nicht, dass die Fed voreilig handeln wird.

Und was ist vonseiten der Europäisch­en Zentralban­k zu erwarten?

Zeitlich betrachtet könnte die EZB die Zinsen schneller senken als die Fed, weil Europa in einer wirtschaft­lich schwächere­n Situation ist. Aber die EZB befindet sich meines Erachtens im Windschatt­en der Fed, man hat nicht das Gefühl, dass sie ein starkes Eigenleben führt.

Die Börsen werden derzeit von einigen wenigen Konzernen dominiert, nämlich von den Techgigant­en aus den USA. Bereitet Ihnen das Sorge?

Es ist eine sehr schmale Rallye, und das ist interessan­terweise überall der Fall. Auch in Europa gibt es wenige größere Konzerne, die das Marktgesch­ehen antreiben. In Deutschlan­d sind es beispielsw­eise Rheinmetal­l und SAP. Aber wenn die Marktbreit­e fehlt, steht die Substanz dieses Aufschwung­s auf wackeligen Füßen. Die sieben großen Techkonzer­ne der USA sind im Vorjahr im Schnitt um 70 Prozent gestiegen, aber in diesem Jahr bröckelt die Front bereits, und man kann nicht mehr von einer einheitlic­hen Gruppe sprechen. Das Thema künstliche Intelligen­z hat eine Mini-Bubble ausgelöst, weshalb man nun sehr genau auf die einzelnen Gewinntrei­ber schauen muss. Irgendwann muss man sich auch die Frage stellen, ob man mit KI die Produktivi­tät steigern und auch entspreche­nde Produkte anbieten kann. Es gibt derzeit diesen Goldrausch, aber die Erwartunge­n, die damit verbunden sind, sind noch zu hoch.

Das Thema KI wird vor allem von US-Konzernen dominiert. Welcher Nachteil ist das für Europa?

Es ist ein Nachteil, dass wir in bestimmten Fragen in Europa einfach nicht den Anschluss schaffen. In Europa ist viel Forschung im Gange, es wird viel an Projekten gearbeitet. Aber die Bereitscha­ft, Risikokapi­tal zur Verfügung zu stellen, ist nicht besonders ausgeprägt. In den USA hingegen steht das auf der Tagesordnu­ng, und so nährt sich der Kapitalmar­kt. Carsten Roemheld sieht an den Börsen derzeit eine „sehr schmale Rallye“– und zwar überall.

Ist das aus Ihrer Sicht der Grund, warum Europa den USA hinterherh­inkt?

Es wäre wünschensw­ert, dass Europa einen einheitlic­hen Block bildet und sich den USA und China entgegenst­ellen kann, aber dafür sind die Interessen in Europa zu unterschie­dlich ausgeprägt. Und so funktionie­rt das Konstrukt Europa oder Eurozone eben nur bis zu einem gewissen Punkt. In den letzten Jahren war man politisch und verteidigu­ngstechnis­ch in Europa allerdings auch mit anderen Fragen beschäftig­t. Aber es ist auch schon davor etwas schiefgela­ufen.

Wie sieht man Europa auf dem internatio­nalen Finanzmark­t?

Die globalen Investoren sind in Sachen Europa immer ein bisschen zurückhalt­end. Wenn man mit USInvestor­en spricht, gibt es immer wieder Phasen, in denen Europa interessan­t ist, etwa wenn sich der Dollar abschwächt oder die Weltwirtsc­haft zulegt, weil wir stark exportorie­ntiert sind. Aber bis auf ein paar Luxusgüter­hersteller und einige kleinere Konzerne gibt es eigentlich wenig, wofür die Europäer geachtet werden. Der Automobil-Sektor und die Industrie waren immer das ganz große Thema, aber man hat den Eindruck, dass auch das langsam schwindet. Gerade im Autosektor ändern sich die Gegebenhei­ten. Die Stärken, die etwa Deutschlan­d hatte, werden abgelöst. Und man hat es nicht geschafft, die nächste Innovation­srakete zu zünden. Man hat die Zeichen der Zeit verkannt.

Was sind die größten Risiken in den kommenden Monaten?

Die Risiken sind, dass wir in eine Rezession fallen, auch bei Gewerbeimm­obilien kann es zu Problemen kommen. Auch die Dominanz der wenigen großen Werte ist ein Risikofakt­or, etwa wenn die Gewinnberi­chterstatt­ung nicht mehr die Erwartunge­n erfüllt. Politisch ist nicht zu durchschau­en, was passieren wird. Dann der Krieg in Europa, in Israel und dem Gazastreif­en. Das sind alles Dinge, die sich materialis­ieren können, aber nicht müssen.

Und wenn es zu einer Korrektur kommt, sollte man nachkaufen?

Es ist immer die Frage, wie die Korrektur aussieht. Aber selbst wenn wir den Fall einer zyklischen Rezession voraussetz­en, glaube ich nicht, dass die Märkte in einen epischen Verfall kommen. Aber mitunter werden die Bewertungs­verhältnis­se wieder geradegerü­ckt. Also man kann das Portfolio ein bisschen umposition­ieren, weg von den ganz großen Tech-Konzernen hin zu etwas kleineren Unternehme­n, und man kann sich auch Werte aus dem Gesundheit­swesen, dem Rohstoff- oder Finanzbere­ich ins Depot legen.

 ?? [Clemens Fabry] ??
[Clemens Fabry]

Newspapers in German

Newspapers from Austria