„Es gibt derzeit diesen Goldrausch“
Fidelity-Börsenexperte Carsten Roemheld über Europas Schwäche und die Dominanz weniger Konzerne auf dem Markt.
Die Presse: Seitdem die US-Notenbank im Herbst Zinssenkungen für das heurige Jahr in Aussicht gestellt hat, haben die Aktienmärkte deutlich zugelegt. Können Sie die Euphorie der Börsen nachvollziehen?
Carsten Roemheld: Es fällt mir schwer, denn die Gründe für den Ausgangspunkt der Rallye sind heute nicht mehr da. Die Zinssenkungen wurden von den Notenbanken in einer moderateren Form ins Spiel gebracht, als der Markt das angenommen hat. Da gab es eine große Lücke, die inzwischen jedoch geschlossen ist. Und trotzdem haben die Märkte neue Höchststände erreicht. Das hat aus meiner Sicht damit zu tun, dass man das Narrativ ein bisschen geändert hat. Zunächst sagte man, dass die Zinssenkungen der Grund für die steigenden Aktienmärkte seien, jetzt sagt man: Wenn die USWirtschaft so stark ist und die USNotenbank Fed die Zinsen deshalb nicht senkt, ist das ein noch besserer Grund. Ich empfinde es als schwierig, wenn der Markt immer einen neuen Grund sucht. Auf der anderen Seite ist genug Liquidität da, und es gibt die Furcht, etwas zu verpassen.
Warum hat der Markt den Notenbanken zunächst nicht geglaubt?
Die Notenbanken haben in den vergangenen Jahren viele Prognosen gemacht, die sich nicht bewahrheitet haben. Ich glaube, das hundertprozentige Vertrauen in die Notenbanken ist nicht ganz gegeben. Mit dem Rückzug der Inflation hat man zudem angenommen, dass die US-Notenbank ihre Geldpolitik bald lockern wird. Aber die Notenbanken haben auch die Siebziger- und Achtzigerjahre im Blick. Damals ließ man die Zügel schnell locker, und die Inflation kam mit einem Doppelschwung zurück, weshalb sich die Fed gezwungen sah, die Zinsen auf bis zu 20 Prozent anzuheben.
Der erste Teil der Inflation ist leicht wegzubekommen, die letzten Meter sind meist schwieriger. Wird man in den USA heuer noch eine Inflationsrate von zwei Prozent sehen?
Ich glaube, es ist unrealistisch. Tendenziell sind die strukturellen Faktoren so ausgestaltet, dass die Inflation höher bleibt. Die Angebotssituation geht zurück, es existieren demografische Probleme, und veränderte Wertschöpfungswege verteuern Produktionsprozesse. Aus meiner Sicht gibt es eine gewisse Sockelinflation, die über den Werten aus der Vergangenheit liegt.
Wird es bis Juni zu Zinssenkungen kommen?
Für Juni sind die Wahrscheinlichkeiten einigermaßen hoch. Aber ich kann meine Hand dafür nicht ins Feuer legen. Ich glaube nur nicht, dass die Fed voreilig handeln wird.
Und was ist vonseiten der Europäischen Zentralbank zu erwarten?
Zeitlich betrachtet könnte die EZB die Zinsen schneller senken als die Fed, weil Europa in einer wirtschaftlich schwächeren Situation ist. Aber die EZB befindet sich meines Erachtens im Windschatten der Fed, man hat nicht das Gefühl, dass sie ein starkes Eigenleben führt.
Die Börsen werden derzeit von einigen wenigen Konzernen dominiert, nämlich von den Techgiganten aus den USA. Bereitet Ihnen das Sorge?
Es ist eine sehr schmale Rallye, und das ist interessanterweise überall der Fall. Auch in Europa gibt es wenige größere Konzerne, die das Marktgeschehen antreiben. In Deutschland sind es beispielsweise Rheinmetall und SAP. Aber wenn die Marktbreite fehlt, steht die Substanz dieses Aufschwungs auf wackeligen Füßen. Die sieben großen Techkonzerne der USA sind im Vorjahr im Schnitt um 70 Prozent gestiegen, aber in diesem Jahr bröckelt die Front bereits, und man kann nicht mehr von einer einheitlichen Gruppe sprechen. Das Thema künstliche Intelligenz hat eine Mini-Bubble ausgelöst, weshalb man nun sehr genau auf die einzelnen Gewinntreiber schauen muss. Irgendwann muss man sich auch die Frage stellen, ob man mit KI die Produktivität steigern und auch entsprechende Produkte anbieten kann. Es gibt derzeit diesen Goldrausch, aber die Erwartungen, die damit verbunden sind, sind noch zu hoch.
Das Thema KI wird vor allem von US-Konzernen dominiert. Welcher Nachteil ist das für Europa?
Es ist ein Nachteil, dass wir in bestimmten Fragen in Europa einfach nicht den Anschluss schaffen. In Europa ist viel Forschung im Gange, es wird viel an Projekten gearbeitet. Aber die Bereitschaft, Risikokapital zur Verfügung zu stellen, ist nicht besonders ausgeprägt. In den USA hingegen steht das auf der Tagesordnung, und so nährt sich der Kapitalmarkt. Carsten Roemheld sieht an den Börsen derzeit eine „sehr schmale Rallye“– und zwar überall.
Ist das aus Ihrer Sicht der Grund, warum Europa den USA hinterherhinkt?
Es wäre wünschenswert, dass Europa einen einheitlichen Block bildet und sich den USA und China entgegenstellen kann, aber dafür sind die Interessen in Europa zu unterschiedlich ausgeprägt. Und so funktioniert das Konstrukt Europa oder Eurozone eben nur bis zu einem gewissen Punkt. In den letzten Jahren war man politisch und verteidigungstechnisch in Europa allerdings auch mit anderen Fragen beschäftigt. Aber es ist auch schon davor etwas schiefgelaufen.
Wie sieht man Europa auf dem internationalen Finanzmarkt?
Die globalen Investoren sind in Sachen Europa immer ein bisschen zurückhaltend. Wenn man mit USInvestoren spricht, gibt es immer wieder Phasen, in denen Europa interessant ist, etwa wenn sich der Dollar abschwächt oder die Weltwirtschaft zulegt, weil wir stark exportorientiert sind. Aber bis auf ein paar Luxusgüterhersteller und einige kleinere Konzerne gibt es eigentlich wenig, wofür die Europäer geachtet werden. Der Automobil-Sektor und die Industrie waren immer das ganz große Thema, aber man hat den Eindruck, dass auch das langsam schwindet. Gerade im Autosektor ändern sich die Gegebenheiten. Die Stärken, die etwa Deutschland hatte, werden abgelöst. Und man hat es nicht geschafft, die nächste Innovationsrakete zu zünden. Man hat die Zeichen der Zeit verkannt.
Was sind die größten Risiken in den kommenden Monaten?
Die Risiken sind, dass wir in eine Rezession fallen, auch bei Gewerbeimmobilien kann es zu Problemen kommen. Auch die Dominanz der wenigen großen Werte ist ein Risikofaktor, etwa wenn die Gewinnberichterstattung nicht mehr die Erwartungen erfüllt. Politisch ist nicht zu durchschauen, was passieren wird. Dann der Krieg in Europa, in Israel und dem Gazastreifen. Das sind alles Dinge, die sich materialisieren können, aber nicht müssen.
Und wenn es zu einer Korrektur kommt, sollte man nachkaufen?
Es ist immer die Frage, wie die Korrektur aussieht. Aber selbst wenn wir den Fall einer zyklischen Rezession voraussetzen, glaube ich nicht, dass die Märkte in einen epischen Verfall kommen. Aber mitunter werden die Bewertungsverhältnisse wieder geradegerückt. Also man kann das Portfolio ein bisschen umpositionieren, weg von den ganz großen Tech-Konzernen hin zu etwas kleineren Unternehmen, und man kann sich auch Werte aus dem Gesundheitswesen, dem Rohstoff- oder Finanzbereich ins Depot legen.