„Das war Putins Botschaft an die Kunstszene“
Exil-Galerist Marat Gelman erzählt der „Presse“die Hintergründe zu den Verhaftungen in Russlands Kunstszene: Eine Protestaktion, die Nawalny noch unterstützte.
Die Woche vor der Wahl sollte Angst und Schrecken über Russlands zeitgenössische Kunstszene bringen: Von zumindest 30 Hausdurchsuchungen und Verhaftungen teilweise sehr renommierter Künstlerinnen und Künstler durch den Inlandsgeheimdienst FSB berichteten Agenturen. Als Grund wurden Ermittlungen gegen das Pussy-Riot-Mitglied Pjotr Wersilow genannt, der aufseiten der Ukraine kämpft und in Abwesenheit zu mehreren Jahren Straflager verurteilt worden war. Aber was passierte genau? Und warum gerade jetzt? Das fragte „Die Presse“Marat Gelman. 1960 in Chisinau geboren, war er einer der mächtigsten Kulturfunktionäre Russlands unter Boris Jelzin. Danach leitete er das Museum für zeitgenössische Kunst in Perm und eröffnete eine Galerie in Kiew. Als Putin-Kritiker verließ er 2014, bei der Besetzung der Krim, das Land, er gilt in Russland als „ausländischer Agent“. Heute betreibt Gelman in Montenegro ein Residency-Programm und in Berlin eine Galerie.
Die Presse: Was ist diese Woche genau in der russischen Kunstszene geschehen?
Marat Gelman: Es waren ungefähr 25 Künstler und zwei Manager, die für einen Tag verhaftet und jeweils sechs Stunden vernommen wurden. Vor allem waren das Fragen über Wersilow. Aber das war nur der formelle Grund. Der wahre Grund war, eine Botschaft an die Kunstszene zu schicken: Ihr seid unter Kontrolle, wir beobachten euch.
Das war wohl absichtlich vor den Wahlen. Aber warum, was wurde erwartet?
Ich denke, das war nur der Beginn der Einschüchterung. Zu Beginn dachte ich, das würde erst nach der Wahl passieren. Aber anscheinend gibt es doch Angst wegen des Projekts „Noon against Putin“, das auch von Nawalny unterstützt wurde, bevor er starb.
Wobei geht es bei „Noon against Putin“?
Es ist eine Art Flashmob. Alle sollen zur selben Zeit zur Wahl gehen, um zwölf Uhr mittags. Dadurch wird es Schlangen geben, die Leute, die gegen Putin und gegen den Krieg sind, können sich auf diese Weise treffen und sehen, dass sie nicht allein sind. Wir bewerben diese Aktion über unsere Kanäle in ganz Russland. Ich hoffe, dass eine Million Menschen mitmachen werden und wir so auch der europäischen Gesellschaft zeigen können, dass es einen großen Teil der russischen Gesellschaft gibt, der gegen Putin ist.
Wird die Aktion jetzt nach der polizeilichen Einschüchterung noch stattfinden?
Ja, das ist das Gute daran, sie ist absolut ungefährlich. Jeder kann behaupten, er gehe einfach zufällig um diese Zeit zur Wahl. Wie soll das Gegenteil bewiesen werden können? Aber ich denke, die Einschüchterung jetzt sollte dazu dienen, zu verhindern, dass Künstler diese Aktion für andere Protestaktionen nützen.
Warum nimmt Putins System die zeitgenössische Kunstszene überhaupt wichtig?
Natürlich hat er gefährlichere Feinde. Aber die Sprache der zeitgenössischen Kunst ist nun einmal per se international und auf die Zukunft ausgerichtet. Genau das will Putin nicht, er will, dass Russland ins 19. Jahrhundert zurücksieht. Deshalb wird er nach der Wahl das noch bestehende System der zeitgenössischen Kunst wohl völlig schließen. Und dabei hat er Unterstützung von Künstlern und Funktionären, die noch aus der alten Sowjetunion in den Institutionen überdauert haben.
Werden noch mehr Künstler das Land verlassen? Ist das nicht schlecht für den Widerstand vor Ort?
Die wichtigen Leute der russischen Kunst, der Literatur, des Theaters, auch der Popmusik, haben Russland längst verlassen, vor dem Krieg gegen die Ukraine oder währenddessen. Die Hälfte der Kunstszene lebt inzwischen im Exil. Und ich finde das wichtig. Hier kann sie neue Erfahrungen sammeln: Erstmals sind wir, fern von unserem großen Territorium, die Kultur einer Minderheit. Erstmals ist die russische Kultur dadurch wirklich in Europa integriert. Und die demokratischen Erfahrungen, die wir sammeln, können wir, wenn Russland sich wieder ändert, zurückbringen.