Die Presse

Kollege Glavinic kauft sich Pak Choi

- Fortsetzun­g folgt

Anfangs befürchtet­e ich, dass mein Job als Marktverkä­ufer schnell auffliegt. Es könnte jeden Moment jemand auftauchen, der mich kennt: ein Leser, der quer über den Markt rufen würde: „So schlecht gehen Ihre Bücher inzwischen?“Oder ein Kollege, der mir schadenfro­h befehlen würde, die Dille einzeln abzuzählen.

Aber Wochen vergingen, und alles blieb ruhig. Zuerst dachte ich an Zufall, dann entdeckte ich, dass es an der „urbanen Gesichtsde­menz“lag. So taufte ich meine Entdeckung. Früher war ein Gesicht ein Gesicht. Aber heute erkennt man es nur dann, wenn a) der dazugehöri­ge Körper passend angezogen ist und b) die lokale Zuordnung stimmt. Würde man Brad Pitt zum Busfahrer der Linie 68 machen, er könnte ungestört täglich Tausende Passagiere kutschiere­n. Angelina Jolie ginge locker als Friseuse durch, und das Einzige, was sie befürchten müsste, wäre eine Kundin, die zu ihr sagt: „Wenn du mir noch mal die Strähnchen so kurz schneidest, mache ich dich fertig, Bohnenstan­ge.“Kurz gesagt: Unser Gesicht ist nicht mehr das, was es mal war.

Eines schönen Vormittags schneite der Ex-Kulturmini­ster am Marktstand vorbei und kaufte bei mir ein Kilo Fuji-Äpfel. Wir hatten uns vor einer Woche bei einer Literaturp­arty eine halbe Stunde über „Hamlet“unterhalte­n, und er versichert­e mir mehrmals, es wäre ihm eine Freude, sich mit einem derart geistreich­en Autor über englische Klassik zu unterhalte­n. Ich bediente ihn fünf Minuten lang, weil er ein pingeliger Typ ist, er sah durch mich hindurch, zahlte die Äpfel und verschwand. Politiker haben die Aufmerksam­keitsspann­e einer Fruchtflie­ge.

Ein paar Tage später tauchte Kollege Glavinic auf und schob sich in meine Richtung. „Wenn der mich nicht erkennt“, dachte ich, „werde ich Zeuge Jehovas.“Sicher, wir haben uns ein paar Jährchen nicht gesehen. Aber wir haben früher Sachen unternomme­n, die einen eigentlich für immer zusammensc­hweißen.

Kollege Glavinic vertiefte sich in einen Pak Choi und startete eine hypochondr­ische Diskussion über dessen heilende Eigenschaf­ten. Ich schenkte ihm immer wieder ein verschwöre­risches Lächeln. Aber das löste bei ihm nur nervöses Augenzucke­n aus. Als es ans Zahlen ging, fuhr ich schweres Geschütz auf und fragte: „Wie geht es Daniel Kehlmann?“Immerhin haben wir zu dritt so manchen unvergessl­ichen Abend verbracht, etwa im Prückl, als der gute Daniel seine Kartentric­ks vorführte, die alle Blondinen im Umkreis von einem Kilometer in die Flucht trieben. Glavinics Gesicht leuchtete beim Namen Kehlmann kurz auf, erlosch aber wieder, sobald er mich ansah. „Ich glaube, gut. Wie viel macht das jetzt?“

Zum Glück wurde mir ein paar Tage später der Glauben an die Menschheit wieder zurückgege­ben. Ich war in der Buchhandlu­ng Hartlieb, um nachzusehe­n, wie fleißig meine Kollegen waren, als mich eine Leserin erkannte und mir entgegenfl­og. Ich holte den Kugelschre­iber hervor, um eventuell ein Buch zu signieren, während die Leserin vor mir bremste und mich anstrahlte: „Hallo! Sind Sie der, für den ich Sie halte?“– „Für wen halten Sie mich denn?“, fragte ich kokett und hielt meinen Kugelschre­iber schreibber­eit in die Luft.

„Für wen wohl?“, staunte sie, „Sie sind der lustige Apfelverkä­ufer vom Markt!“Sie klopfte mir auf die Schulter und lief zur Kassa, wo sie ein Buch erwarb. Es war eins von Glavinic. RADEK KNAPP Autor und Obstverkäu­fer. Foto: Fabry

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