Die Presse

Hier sprechen sie von liberalen Faschisten

Expedition Europa: Die Abgeordnet­e des Georgische­n Traums fürchtet für ihre Töchter und Enkel, dass „eine Frau bald keine Frau mehr“sein darf.

- Von Martin Leidenfros­t

Nach Samtredia fahre ich, weil es eine durchschni­ttliche Kleinstadt im neuen EU-Beitrittsk­andidatenl­and Georgien ist, in der die rätselhaft­e Regierungs­partei „Georgische­r Traum“dominiert. Die EU-Zustimmung liegt in Georgien weit jenseits von 70 Prozent, die durch Samtredia führende Ost-West-Autobahn wird von der Europäisch­en Investitio­nsbank mitfinanzi­ert, der seit 2012 regierende „Georgische Traum“fährt aber einen hybrid westkritis­chen-chinafreun­dlichen Kurs. Da Russland 2008 in Georgien einmarschi­ert ist, kann man nur bedingt von einer „prorussisc­hen“Linie sprechen, der „Georgische Traum“lehnt Sanktionen gegen Russland aber ab und brachte im vorigen Frühjahr gar ein Gesetz gegen „ausländisc­he Agenten“ein, wie es in Russland schon gilt. Der Bürgermeis­ter, Absolvent der russischen Schule Samtredia, erhielt im ersten Wahlgang 60 Prozent. Aktivisten von der Opposition­sbewegung „Heim nach Europa“bekamen laut prowestlic­hen Medien im Sommer 2022 auf die Nase, auch in Samtredia.

Das Schönste an der Stadt ist ihr Name. Der größte Bau, das rostrote Ex-Hotel, schreit mit dicht gehängter Wäsche von AbchasienV­ertriebene­n nach Armut. An einer Kreuzung ein jovial plaudernde­r Pope, dessen Nase mal einen ziemlich tiefen Schnitt abgekommen hat. Er ist zu einem Interview bereit, als ich aber als Thema die EU angebe, rennt sein Übersetzer weg: „Russland ist besser!“

In der Aula des Rathauses eine Metallschr­anke, ich frage nach dem Gemeindera­t. Der nur Georgisch sprechende SecurityMa­nn rät mir via Handy-Übersetzun­g: „Pensionist­en geradeaus.“Oben klopfe ich an die halb offene Tür eines engen Büros. Ein intellektu­eller Glatzkopf schaut sich im Computer Autos an, an der Wand hängt ein US-Certificat­e of Achievemen­t mit seinem Namen. Beschan Gogia war von 1991 bis 1997 Samtredias Bürgermeis­ter. Er sei nicht mehr in der Politik, „ich werde in anderthalb Monaten 70“, versteht sich aber als Teil des Bürgermeis­terteams.

Eine Gemeinderä­tin mit blonden Stirnfrans­en läuft herein, Manana Sirbiladze, 65. Sie war 1991 die erste weibliche Abgeordnet­e, jetzt ist sie wieder Abgeordnet­e für den „Georgische­n Traum“und gerät sofort in Fahrt. Beide betonen, dass sie seit Ewigkeiten kein Russisch mehr gesprochen hätten. Sie würden sich niemals der „russischen Welt“zurechnen, kommen aber als orthodoxe Christen zu teils ähnlichen kulturelle­n Präferenze­n.

„Wir haben von der Freiheit geträumt, ich selbst habe dafür gelitten“, ruft Sirbiladze, „wir Georgier träumen Jahrhunder­t für Jahrhunder­t. In Europa hat sich aber etwas verändert.“ Sie fürchtet für ihre Tochter und ihre Enkelin, dass „eine Frau keine Frau mehr ist, mittleres Geschlecht, Elternteil 1, Elternteil 2“. Das stehe im Widerspruc­h zur georgische­n Verfassung. Im Westen habe sich „Ultraliber­alismus“, ja „liberaler Faschismus“breitgemac­ht. – „Von liberalen Faschisten spricht auch Ihr Premiermin­ister.“– „Ich bin da seiner Meinung.“

Gogia stimmt „halb“zu. Die prowestlic­hnationali­stische Opposition um den Ex-Präsidente­n Saakaschwi­li nennt er diktatoris­ch, „die haben immer auf die Leute geschossen“, während er Georgiens gestürzten Präsidente­n Swiad Gamsachard­ia, der hier in Westgeorgi­en einen Bürgerkrie­g lostrat, erstaunlic­h milde beurteilt. Er habe diesen „echten Georgier“persönlich gekannt. Während der drei Tage, da die Swiadisten im Winter vor 31 Jahren den Bahnknoten­punkt Samtredia hielten, war Gogia Bürgermeis­ter. „Das war ein gewöhnlich­er Krieg“, sagt er. Er habe sich neutral verhalten.

Sirbiladze leugnet, dass Partei-Aktivisten 2022 Opposition­elle geschlagen hätten, deren Losung „Heim nach Europa“macht sie aber wütend: „Wir sind seit jeher in Europa daheim!“Gogia pflichtet bei: „Ich bin Georgier, ich bin Europäer.“Obwohl ihr „einige Sachen nicht gefallen“, ist Sirbalidze für den EUBeitritt. Vorher „nehmen wir ein Gesetz an, das LGBT-Propaganda und Gender verbietet. Beim Gesetz gegen ausländisc­he Agenten haben wir hingegen nachgegebe­n. Das Gesetz war richtig, hätte aber allzu große Spannungen ausgelöst.“

Als die beiden Frauen vom Ukraine-Krieg sprechen, verwenden sie dann doch prorussisc­he Formulieru­ngen. Sirbiladze schimpft: „Die tun so, als ob das nur Putin machen würde!“Ich frage nicht mehr nach, wer „die“sind. Vermutlich liberale Faschisten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria