Die Presse

Ein Spagat in Südkorea

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Mani, 37 Jahre alt, wollte einst Kunstturne­rin werden. Ihre Mutter sparte sich das Geld für die teure Ausbildung praktisch vom Mund ab, aber trotz harten Trainings schaffte es Mani nicht, im Leistungss­port anzukommen. Es fehlte ihr der Wille, sich täglich bis aufs Blut zu quälen.

Der Roman „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“der südkoreani­schen Autorin Cho Nam-Joo erzählt von zwei Zeitebenen aus die Geschichte jener Mani: Wir sehen sie als junges Mädchen, Spagat übend, von der Trainerin gequält, und dann als junge Frau, die immer noch bei den Eltern lebt, in einem armseligen Haus, das von der Immobilien­gesellscha­ft bald abgerissen wird. Die Tristesse, die innerhalb Manis Familie herrscht, die einerseits den prekären finanziell­en Verhältnis­sen geschuldet ist und andrerseit­s der ruppigen Beziehung, die die Mutter zu ihrer Tochter und zu ihrem Mann pflegt, beschreibt Cho Nam-Joo behutsam und ohne Wehleidigk­eit gegenüber ihren Figuren. Zarte Ironie entsteht oft durch die neutrale Beschreibu­ng von Sachverhal­ten, die seltsame Situatione­n auslösen und in komplizier­ten Verwicklun­gen enden, oder durch absurde Dialoge, die Menschen führen, wenn sie seit Jahrzehnte­n in engen Verhältnis­sen zusammenle­ben. Die ältere Mani blickt mit Sympathie auf ihr jüngeres Ich; dass die ältere bald ihr Elternhaus verlassen muss, weil der Vater es gegen eine Hochhauswo­hnung eintausche­n will, stimmt sie traurig. Als es so weit ist, sagt sie: „Das Leben hatte nicht einfach aufgehört wie ein Roman, ich hatte die endlos lange Zeit nicht überspring­en können, sondern sie Minute für Minute durchleben müssen.“Und das wird Mani wohl auch weiterhin tun.

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