Hier kämpfen Einhörner
Wer den neuen Murakami liest, dem wird vielleicht manches bekannt vorkommen: die Stadt hinter der Mauer. Die Einhörner. Der Mann, der Träume liest (mehr schlecht als recht übrigens). Fast dreißig Jahre nach „Hard-Boiled Wonderland“hat der Autor diese Motive wieder aufgegriffen. Er sei damals, erklärt er in einem Nachwort, nicht zufrieden gewesen, aber die Geschichte habe ihn nicht mehr losgelassen, darum habe er sich während der Pandemie in Klausur begeben und sie neu bearbeitet. Er habe Jahre dafür gebraucht.
Und das merkt man ihr auch an. Sie ist wie ein Antidot zur Rastlosigkeit dieser Zeit. Murakami erzählt behutsamer, ja genügsamer als zuletzt, ohne große Volten, dafür mit Wiederholungen und leichten Rückungen. Es wird Schnee geschaufelt, Tee gekocht, das Holz im Ofen angezündet. Unser Held schneidet Knoblauch in feine Scheiben, brutzelt Tintenfisch in der Pfanne. Er trinkt Kaffee und isst Heidelbeermuffins im immer gleichen Lokal, beobachtet eine Katze, die im Hinterhof lebt, und einen Buben im Yellow-Submarine-T-Shirt – und erzählt davon dem ehemaligen Bibliotheksleiter.
Der ist zufällig ein Geist. Ein wohlwollender natürlich, der übrigens Damenröcke trägt. Wirkliches und Unwirkliches mischen sich hier wieder fast beiläufig, wie wir das von den frühen Murakamis kennen.
„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“spielt dabei in zwei Welten. In der einen lernt ein junger Mann ein Mädchen kennen, sie schreiben einander Briefe und treffen sich hin und wieder in einem Park; es ist eine sanfte, süße Liebesgeschichte. Bis das Mädchen plötzlich verschwindet. Zurück bleibt die Geschichte, die sie ihm erzählt hat, die beide miteinander weitergesponnen haben, von jenem geheimnisvollen Ort, vor dessen Toren zur Paarungszeit die Einhörner miteinander kämpfen, und wo keiner einen Schatten hat, den mussten sie beim Wächter abgeben. Dort lebt das Mädchen. Dort soll der junge Mann sie finden, auch wenn er weiß: Sie wird ihn nicht erkennen. Das ist die zweite Welt. Hier herrscht kein Trieb. Hier herrscht kein Glück. So etwas wie Zufriedenheit, das schon.
Murakami kehrt hier zu seinen Ursprüngen zurück, zu seinen einfachen Helden, die ein bisschen planlos durch die Welt tapsen, die sich nicht viel erwarten und auch nichts Besonderes sind und sich unversehens in diesem Murakami-Zauber wiederfinden. Und wir mit ihnen.