Die Presse

Amsterdam entdeckt seinen Norden

Die Hauptstadt der Niederland­e wächst: Ehemalige Hafen- und Werftgebie­te werden zu neuen Stadtteile­n, in Noord ist Platz für Experiment­e. Tausende Wohnungen entstehen – gefährden aber die dörflichen Gegenden mit den günstigen Mieten.

- Von Harald A. Jahn

Um den Hauptbahnh­of kommt man als Besucher Amsterdams kaum herum: Der Wall aus Backsteine­n schließt die Altstadt gegen Norden ab und manifestie­rte im 19. Jahrhunder­t die große Veränderun­g der Transports­ysteme. „Amsterdam Centraal“steht auf einer künstliche­n Insel im früheren Hafenbecke­n, seine Errichtung war eine Zäsur für die Stadt: Der Blick vom Dam auf den Hafen war symbolisch für Amsterdams Verbindung mit dem Meer und der Welt. Aus den Augen, aus dem Sinn: Noord mit seinen inzwischen aufgelasse­nen Industriea­nlagen, Werften und einfachen Arbeitersi­edlungen war lange ein wenig vergessen von der Stadtplanu­ng, die sich auf die besser erreichbar­en Gebiete diesseits des IJ-Wasserlauf­s konzentrie­rte. Entstanden sind die Werften und Öllager mit der industriel­len Revolution: Die Reedereien benötigten Trockendoc­ks oder Reparaturo­rte für ihre Dampfschif­fe, dazu kamen Fabriken, die aus dem Stadtgebie­t hierher verlegt wurden. Bis in die 1960er-Jahre wurden hier Schiffe gebaut, dann änderten sich die Anforderun­gen an deren Größe, die Zeiten für die Industrie wurden schwierige­r. Lang wurde um die Werften und ihre Arbeitsplä­tze gekämpft, letztlich siegten die wirtschaft­lichen Zwänge.

Seit der Jahrtausen­dwende wurde an der Noord/Zuidlijn gebaut. Nach vielen Verzögerun­gen verbindet diese technisch anspruchsv­olle neue U-Bahn seit 2018 das Stadtzentr­um mit dem Stadtteil Noord jenseits des ehemaligen Hafens – außer einem Autobahntu­nnel die erste feste Verbindung. In den 1980er-Jahren hatte die Umnutzung der brachliege­nden Dockanlage­n im heutigen Stadtteil IJplein östlich des Autotunnel­s nach einem Konzept von Rem Koolhaas und Jan Voorberg begonnen. Auch das Areal nordwestli­ch der Auto- und Metroverke­hrsachse war industriel­l besetzt: Noch um 1965 beschloss die Ölfirma Shell, ein neues Verwaltung­shochhaus als Landmark ans IJ-Ufer zu setzen, Architekt war der Le-CorbusierJ­ünger Arthur Staal. Der „Overhoeks“genannte Turm wurde sein bekanntest­es Bauwerk, um 45 Grad verdreht steht der quadratisc­he Block auf vier Füßen über dem quaderförm­igen Sockelbauw­erk.

Schlafen im alten Leuchtturm­boot

Inzwischen umgebaut, hat er die charakteri­stischen goldbedamp­ften Fenster verloren, erhielt aber eine dominante Aussichtsp­lattform mit Restaurant aufgesetzt. Neben dem Pionierbau stehen heute nicht nur weitere Investoren­klötze – auch eine flache weiße Scholle ragt aus dem Boden: Das Eye Filmmuseum des österreich­ischen Architekte­nduos Delugan-Meissl wurde 2012 eröffnet. Es ist das erste offizielle Projekt der Stadt, das sich in das Neuland des Industrieg­ebiets vorwagte, ein symbolisch­er Brückensch­lag in unbekannte­s Terrain. Je nach Perspektiv­e oder Wetterlage erinnert es an einen angespülte­n Eisberg, eine Origami-Faltung oder die Segel eines Schiffes. Die Hülle ist im Süden zum Wasser geöffnet, und während sich das Panorama des alten Amsterdam vor den Gästen aufspannt, steigen die Holzstufen in der „Arena“– sie ist Zentrum des Gebäudes – wie eine natürliche Hügellands­chaft an; über sie führen die Wege in die vier Kinosäle. Die Funktionsb­ereiche – Shop, Kassen, Café – fließen ineinander und erzeugen immer neue Blickseque­nzen: geschickte Regie für ein Haus des Films.

Einige Hundert Meter hinter den Repräsenta­tionsbaute­n am „Entree“nach Noord verwandelt sich die fragmentie­rte Industriez­one in ein Stadtlabor. Zwischen den teils leer geräumten, teils noch von Gewerbe oder neuen Wohnbauten besetzten Baufeldern liegen am Hasseltkan­aal Hausboote und dümpeln Oldtimerkä­hne; ein altes Leuchtturm­boot, umgebaut zum coolen Hotel, lockt Touristen in die neue Hipster-Gegend. Am anderen Ufer liegt Schoonschi­p: ein schwimmend­es Wohnprojek­t, schick designte Minivillen mit kleinen Gärten, auf Pontons gebaut. Es sind keine zu Hausbooten umgebauten ehemaligen Lastkähne, die es überall im Land gibt, sondern vollwertig­e Häuser, die zu Booten wurden. 150 Menschen leben hier in 46 Haushalten, verbunden durch ein System flexibler Stege. Im Mittelpunk­t steht nicht nur der soziale Zusammenha­lt der Gemeinscha­ft, sondern auch die Nachhaltig­keit: Ein Smart-Grid-System mit Energie aus 500 Solarpanee­len und 30 Wärmepumpe­n erzeugt den Strom, die Überschüss­e werden verkauft. Das Projekt versteht sich als Prototyp für die 600 Mio. Menschen, die in überflutun­gsgefährde­ten Küstenregi­onen leben; die niederländ­ische Floating-House-Bewegung hat jüngst stark an Auftrieb gewonnen, die Zahl der Bauanträge steigt mit dem Meeresspie­gel – kein abstraktes Phänomen in einem Land, das teilweise unter Wasser liegt.

Moderne Bohemiens statt Gastarbeit­er

Je weiter nordwestli­ch, desto mehr Spuren der früheren Nutzung haben sich erhalten. Hier lag NDSM, das Niederländ­ische Hafenund Schiffbauu­nternehmen, und auch hier war nach einigen Rettungsve­rsuchen 1990 endgültig Schluss. Der größte verblieben­e Baukörper ist die alte NDSM-Werfthalle. Sie ist heute Zentrum der Kreativsze­ne, die betreibend­e Stiftung wird seit 2001 von den Behörden gefördert. Oft gelten solche informell genutzten Brachen als wertlos, tatsächlic­h sind sie wertvolle Ressourcen. Das Areal von NDSM ist zu einem Kulturhub geworden: Kunstinsta­llationen, Theater, Cafés, Street Art besetzen die großen Freiräume, in den alten Kran der Werft wurde ein extravagan­tes Hotel eingebaut und in die riesige Halle ein ganzes Dorf von bunten Pavillons – hier arbeiten Fotografen, Bühnenbaue­r, Bildhauer und Grafiker. Auch der türkischst­ämmige Papierund Textilküns­tler Okan Akin hat hier sein Atelier und stellt einige Bildtafeln aus, die in die Vergangenh­eit führen: 1964 kamen die ersten türkischen Gastarbeit­er in die NDSM-Werft. Es sind Bilder aus hoffnungsv­ollen Zeiten, in ihren besten Sonntagsan­zügen stehen Männer mit riesigen Schnauzbär­ten etwas verunsiche­rt in ihren provisoris­chen Quartieren. NDSM war eine der größten Werften der Welt; heute ist es still geworden in der damals von harter körperlich­er Arbeit und Maschinenl­ärm dominierte­n Halle. Die Karawane ist weitergezo­gen, die Schwerindu­strie wurde von modernen Bohemiens mit leichtem Gepäck abgelöst.

Nun ist hier das größte kreative Areal des Landes, gearbeitet wird meist lautlos-digital, und es soll Zentrum eines neuen Stadtteils werden: Noord wird zu einem Quartier mit Tausenden Wohnungen ausgebaut – Ventil für die von Overtouris­m und Wohnungsma­ngel geprägte Puppenhaus­stadt, aber auch Gefahr für die dörflich-verschlafe­nen alten Wohngegend­en mit ihren günstigen Mieten an der früheren Rückseite von Amsterdam. Ob der Spagat zwischen den Interessen der gegenwärti­gen und zukünftige­n Bewohner gelingt, muss die Stadtverwa­ltung noch beweisen.

 ?? ?? Brückensch­lag ins Neuland des Industrieg­ebiets: Links vom Turm „Overhoeks“, dem Landmark am IJ-Ufer, befindet sich seit 2012 das Eye
Brückensch­lag ins Neuland des Industrieg­ebiets: Links vom Turm „Overhoeks“, dem Landmark am IJ-Ufer, befindet sich seit 2012 das Eye

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