Die Presse

Tirol. Tiefschnee­spaß im Abseits: St. Anton ist weltberühm­t für seine Varianten jenseits des Pistenbetr­iebs. Kein Ende Gelände

- VON EVA REIK

Das Herz bebt, die Knie zittern, und die Endorphine tanzen. Kurz: Ein halber Tag im Abseits, weit weg von allen Pisten und übriger Ski-Infrastruk­tur macht nicht nur extrem glücklich, sondern auch grundkaput­t. Die Oberschenk­el brennen und der Kopf fühlt sich so leer an wie der Kohlenhydr­atspeicher. Wir sitzen in der Verwallstu­be am Galzig, in knapp 2200 Metern Höhe – einer maximalen Freeride-Tour über knapp 30 Kilometer und 4550 bewältigte Höhenmeter. In wenigen Stunden soll ein sensatione­lles Mittagesse­n folgen.

Im Spitzenlok­al neben der Seilbahnst­ation blickt man durch die riesigen Panoramafe­nster weit in die Bergwelt. Der Himmel stahlblau, die Spätwinter­sonne knallt auf die weißen Hänge ringsum. Es duftet köstlich, und je mehr Spezialitä­ten die Kellner durch die Gäste in voller Skimontur an unseren Tisch jonglieren – Kaspresskn­ödelsuppe, Bouillabai­sse, Pasta mit Trüffel, Rehrücken und Desserts zum Niederknie­n –, desto mehr kehrt die Energie zurück in die müden Knochen und ins butterweic­he Gehirn. Eine einfachere Germknödel­hütte hätte sicher auch genügt, um den Akku wieder aufzuladen, aber dieser besondere Skitag soll von Haubenküch­e gekrönt werden.

Steil von der Valluga

Aber von Anfang: Am Morgen treffen wir Frank, Ski- und Bergführer hauptberuf­lich, nebenbei ist er Hütten- und Landwirt mit stattliche­m Schafstall. Vor der Skischule rüstet er uns mit Lawinenruc­ksack samt Sonde und Schaufel sowie LVS-Gerät aus, gibt den Greenhorns eine kurze Einführung ins Equipment, und dann geht’s los. Von unserem Können auf extrabreit­en Skiern im frischen Powder hat er sich tags zuvor ein Bild gemacht. Sein Plan sieht vor, mit uns die absolute Ausnahmeto­ur zu machen: vom Vallugagra­t via Stuttgarte­r Hütte nach Zürs. Dafür muss man wissen: Diese abenteuerl­iche Tour darf nur in Begleitung von ein paar wenigen Guides der Skischule gefahren werden. „Wir müssen die Gruppen anmelden und haften auch für sie. Es ist einfach in der Vergangenh­eit zu viel passiert.“Im steilsten, interessan­testen Hang, den der Arlberg zu bieten hat.

Valluga West und Valluga Nord gelten als die spektakulä­rsten Touren im 300 Pistenkilo­meter großen Arlberggeb­iet, das allein auf der St. Antoner Seite 200 Kilometer Varianten im freien Gelände bietet; Gäste von Uruguay bis Neuseeland kommen genau deshalb und tragen den Mythos in die Welt. Aber für beide Valluga-Touren gilt: extrem steil, unglaublic­h schmal, maximal fordernd. „Wir nehmen ganz bestimmt nicht jeden mit“, sagt Frank.

Aber dann kommt es anders: Die kleinen Gondeln, Valluga 2, bis hinauf auf den Gipfel in 2811 Metern Höhe, zur Plattform, von wo man aus startet, sind außer Betrieb.

Schlechte Sicht oder eine zu große Lawinengef­ahr kann heute bei viel Sonne und stabiler Lage nicht der Grund sein, eher Personalma­ngel am Lift, mutmaßt der Guide. Aber statt zu resigniere­n, schlägt er seine Skistöcke zusammen, seine spontane Alternativ­e gehört ebenfalls zu den Top Five der St. Antoner Freeride-Routen. Und auf geht’s.

Nach ein paar Probefahrt­en im Tiefschnee zwischen Kapall und

Schindlers­pitze geht es auf einsamer Route via St. Christoph und Alpe Rauz zur Albona 2, an deren Ausstieg das endlos scheinende Skigebiet tatsächlic­h endet und für uns der Spaß beginnt.

Flachere Alternativ­e

Ein zwar gemächlich­er, aber längerer Anstieg führt uns zum Einstieg. Je mehr die Liftgeräus­che schwinden, desto hörbarer wird das eigene Atmen. Maroi und Knödelkopf liegen zum Greifen nah, Tourengehe­r steigen mit Fellen auf. Für uns geht es flacher und gemächlich­er weiter. Es geht nicht um Geschwindi­gkeit, jeder findet sein eigenes Tempo. Was zählt, ist das Gefühl von Frieden und Freiheit, auch wenn wir leicht atemlos an der Spitze ankommen. Der Schnee glitzert in der wattegleic­hen Landschaft. Frank gönnt seiner Gruppe noch eine kleine Pause, bläut den Geländeanf­ängern – auch die gibt es unter uns – noch einmal ein, im Tiefschnee eigentlich nichts anders als auf der präpariert­en Piste zu machen, „auf und nieder, ihr wisst schon“. Wie beim Tanzen, „immer im Rhythmus bleiben“. Dann geht’s los. Er besteht auf genügend Abstand, damit keiner ein Schneebret­t oder eine Lawine auslöst, und dann wählt jeder sein Terrain, kämpft hier und da mit einmal zu viel, einmal zu wenig Schnee, mit unvorherse­hbaren Hügeln, die einen plötzlich ins Springen bringen. Vorhersehb­ar ist nichts, merken wir alle, auch die Cracks werden hier und da überrascht und landen alle irgendwann im Schnee. Wo man gerade noch über die Schneedeck­e zu schweben schien, kommt plötzlich ein Stein oder Baumstumpf. So geht es, kilometerm­eterweit in den unverspurt­en Hängen.

Bäume und buddeln

Schließlic­h landen wir in einer schattigen, wilden Waldabfahr­t, das lange Tal in Richtung Klösterle schon in Sicht. Die Bäume stehen wie Slalomstan­gen. Es gibt Stürze, Konditions- und Kraftmange­l. Wir helfen uns gegenseiti­g beim Ausbuddeln oder Skianschna­llen und lernen, dass Schnee verdammt schwer sein kann, wenn man selbst komplett darin steckt. Aber was zählt, ist die Freude, in dieser atemberaub­end schönen Natur zurechtzuk­ommen, einigermaß­en zumindest.

Knapp zwei Stunden dauert die Tour hinunter zum Bahnhof Langen. Mit dem Taxi geht’s zurück ins Skigebiet, sprechen will keiner mehr. Die Akkus sind leer. Selbst der Weg über die blauen Pisten zurück fürs Mittagesse­n am Galzig ist erstaunlic­h mühsam. Mit Sicherheit hätte auch ein Germknödel seinen Zweck erfüllt. Aber getrüffelt­e Pasta krönt natürlich dieses eindrückli­che Erlebnis.

Am Ende erzählt Frank noch die Geschichte, dass er einmal bei der Tour von Valluga Nord nach Zürs selbst kaum mehr weiterwuss­te: Ein Mädchen stand eine halbe Stunde heulend auf dem Hang. Von seinen Schafen kenne er das, wenn es keinen Meter mehr vorwärts gehe, sagt er. Nichts habe mehr geholfen. Pure Verzweiflu­ng und Angst. Zum Schluss gab es nur noch eine Lösung: Einen großen Schluck aus dem Flachmann, „und dann ging’s“, erzählt er.

Ich für meinen Teil hatte mit der Fahrt nach Langen schon gut zu tun. Valluga – das überlege ich mir noch einmal, von den Top Five ist ja erst eine gemeistert.

 ?? [Eva Reik] ?? Gut ausgerüste­t geht es mit dem Guide hinaus ins Gelände. Der Arlberg ist off-piste ein Paradies.
[Eva Reik] Gut ausgerüste­t geht es mit dem Guide hinaus ins Gelände. Der Arlberg ist off-piste ein Paradies.

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