(Keine) Zurückhaltung bei Retention
„Grundsätzlich sehnen sich Menschen nach Dauerhaftem“, sagt Alfred Barth. Dennoch liebäugeln viele mit einem neuen Job – was Unternehmen enorm fordert.
Retention ist das neue Recruiting – dieser Slogan beschäftigt die Personalabteilungen. Internal Sourcing und internes Employer Branding sind in vielen Unternehmen die Antwort auf die Herausforderungen, auf dem Markt geeignete Arbeitskräfte zu finden. Zudem haben sie es – spätestens seit Corona – mit einer gestiegenen Wechselwilligkeit und -bereitschaft ihrer Mitarbeitenden zu tun.
Das mutet mitunter paradox an: Denn einerseits sträuben sich viele Mitarbeitende, wenn Veränderungen anstehen, andererseits schauen sich viele nach einer neuen Beschäftigung um. „Menschen sehnen sich nach dem Dauernden, es steckt ein fundamentaler Wunsch in uns nach langen und guten Beziehungen“, sagt Alfred Barth, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologe an der SigmundFreud-Privatuniversität.
„Doch die Umstände verändern sich oft zu schnell für die innere Uhr, die unseren Takt und unseren Rhythmus vorgibt.“Das Internet gebe eben ein anderes Tempo vor als Telefon und Fax. Überhaupt seien Produktzyklen kürzer geworden. Erst recht würden Veränderungen, so wie sie im viel besprochenen Change nötig seien, oft überfordern. „Es gibt allerdings Situationen, in denen ein Wechselwunsch dennoch größer ist als der Wunsch, in der dauerhaften Beziehung zu bleiben“, sagt der Gründer der Wiener Akademien für Arbeitsmedizin und Prävention (Wiap) sowie für Klinische Psychologie (Wikip), der als wissenschaftlicher Beirat auch das Stimmungs- und Bindungsbarometer Robin Mood begleitet. Dazu komme, dass das (Job-)Wechseln gesellschaftlich anerkannt sei, ja, es zuletzt sogar eine Art Gruppendruck gebe, einen Wechsel zu erwägen. „Ein Wechsel ist nicht immer die Folge von Unzufriedenheit“, sagt Barth.
Die Geschwindigkeit und die Bereitschaft, das Dauernde hinter sich zu lassen, verändere sich im Lauf des Lebens und hänge vom Alter und den Lebensumständen ab – ist man ungebunden, hat man Betreuungspflichten, wie wichtig sind mir Familie, Freunde, Hobbys –, und davon wiederum, was als interessante Aufgabe erlebt wird.
Win-win: Emotionale Bindung
Bindung, sagt Barth, ließe sich auf verschiedene Arten einordnen.
• Die emotionale Bindung, bei der es ein affektives Commitment zur Arbeit gibt. Liegt sie vor, ist es wohl eine Win-win-Situation für Arbeitgeber und -nehmer.
• Bei der kalkulatorischen bzw. rationalen Bindung werden Kosten und Nutzen abgewogen, im Job zu bleiben: Finde ich Vergleichbares?
• Normativ Gebundene hält das schlechte Gewissen: Wenn ich gehe, ist der Betrieb gefährdet.
Um geeignete Retention-Maßnahmen ergreifen zu können, sollte man sich die Motive hinter jeder einzelnen Bindung ansehen: Ist sie
• unternehmensbezogen, hängt sie mit der Unternehmerfamilie oder dem Top-Management zusammen. Andere Formen sind die
• aufgabenbezogene, die
• vorgesetztenbezogene und die
• kollegenbezogene Bindung.
Was bindend wirkt, sind faire Bezahlung, Wertschätzung, flexible Arbeitsmodelle, Gestaltungsmöglichkeiten (Handlungsspielraum, Verantwortung), Weiterbildungsangebote, ein für die physische und psychische Gesundheit förderliches Umfeld und im weitesten Sinn die Unternehmens- bzw. Teamkultur. Doch es gebe kein allgemeingültiges Rezept, sagt Barth, keine naturwissenschaftliche Exaktheit. „Menschen sind keine Maschinen. Man kann nur mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten: Wenn Du das tust, ist es so und so wahrscheinlich, dass sich das so oder so auf die Fluktuation auswirkt.“
Die Bindung der Mitarbeitenden lässt sich jedenfalls messen. Etwa anhand der Höhe der Personalentwicklungskosten, der erwünschten wie der unerwünschten Fluktuation, der Verweildauer von Leistungsträgern oder der Mitarbeitendenzufriedenheit.
Wechsel: Weder gut noch böse
Allerdings, sagt Barth, „ein Wechsel an sich ist weder gut noch schlecht oder böse“. Sondern eine Frage der Perspektive: Unternehmen, Individuen, Gewerkschaft hätten durchaus unterschiedliche Wertvorstellungen und Wertmaßstäbe.
Das gilt auch für Fluktuation. Diese kann durchaus auch erwünscht sein, um „frisches Blut“, also neue Ideen und neues Wissen, in ein Team zu holen. Aus Unternehmenssicht ist gute Personalplanung wichtig. Das ist eine, die Wechsel akzeptiert, die Kosten von Neubesetzungen im Blick hat. Und, wie Barth es formuliert, eine Balance zwischen hypernervöser Planung und Ignoranz lebt.
Denn man werde sich an „nomadische Arbeitsverhältnisse gewöhnen müssen. Mit der Möglichkeit, dass man zu einem früheren Arbeitgeber zurückkehrt.“