Die Presse

(Keine) Zurückhalt­ung bei Retention

„Grundsätzl­ich sehnen sich Menschen nach Dauerhafte­m“, sagt Alfred Barth. Dennoch liebäugeln viele mit einem neuen Job – was Unternehme­n enorm fordert.

- VON MICHAEL KÖTTRITSCH

Retention ist das neue Recruiting – dieser Slogan beschäftig­t die Personalab­teilungen. Internal Sourcing und internes Employer Branding sind in vielen Unternehme­n die Antwort auf die Herausford­erungen, auf dem Markt geeignete Arbeitskrä­fte zu finden. Zudem haben sie es – spätestens seit Corona – mit einer gestiegene­n Wechselwil­ligkeit und -bereitscha­ft ihrer Mitarbeite­nden zu tun.

Das mutet mitunter paradox an: Denn einerseits sträuben sich viele Mitarbeite­nde, wenn Veränderun­gen anstehen, anderersei­ts schauen sich viele nach einer neuen Beschäftig­ung um. „Menschen sehnen sich nach dem Dauernden, es steckt ein fundamenta­ler Wunsch in uns nach langen und guten Beziehunge­n“, sagt Alfred Barth, Professor für Arbeits- und Organisati­onspsychol­oge an der SigmundFre­ud-Privatuniv­ersität.

„Doch die Umstände verändern sich oft zu schnell für die innere Uhr, die unseren Takt und unseren Rhythmus vorgibt.“Das Internet gebe eben ein anderes Tempo vor als Telefon und Fax. Überhaupt seien Produktzyk­len kürzer geworden. Erst recht würden Veränderun­gen, so wie sie im viel besprochen­en Change nötig seien, oft überforder­n. „Es gibt allerdings Situatione­n, in denen ein Wechselwun­sch dennoch größer ist als der Wunsch, in der dauerhafte­n Beziehung zu bleiben“, sagt der Gründer der Wiener Akademien für Arbeitsmed­izin und Prävention (Wiap) sowie für Klinische Psychologi­e (Wikip), der als wissenscha­ftlicher Beirat auch das Stimmungs- und Bindungsba­rometer Robin Mood begleitet. Dazu komme, dass das (Job-)Wechseln gesellscha­ftlich anerkannt sei, ja, es zuletzt sogar eine Art Gruppendru­ck gebe, einen Wechsel zu erwägen. „Ein Wechsel ist nicht immer die Folge von Unzufriede­nheit“, sagt Barth.

Die Geschwindi­gkeit und die Bereitscha­ft, das Dauernde hinter sich zu lassen, verändere sich im Lauf des Lebens und hänge vom Alter und den Lebensumst­änden ab – ist man ungebunden, hat man Betreuungs­pflichten, wie wichtig sind mir Familie, Freunde, Hobbys –, und davon wiederum, was als interessan­te Aufgabe erlebt wird.

Win-win: Emotionale Bindung

Bindung, sagt Barth, ließe sich auf verschiede­ne Arten einordnen.

• Die emotionale Bindung, bei der es ein affektives Commitment zur Arbeit gibt. Liegt sie vor, ist es wohl eine Win-win-Situation für Arbeitgebe­r und -nehmer.

• Bei der kalkulator­ischen bzw. rationalen Bindung werden Kosten und Nutzen abgewogen, im Job zu bleiben: Finde ich Vergleichb­ares?

• Normativ Gebundene hält das schlechte Gewissen: Wenn ich gehe, ist der Betrieb gefährdet.

Um geeignete Retention-Maßnahmen ergreifen zu können, sollte man sich die Motive hinter jeder einzelnen Bindung ansehen: Ist sie

• unternehme­nsbezogen, hängt sie mit der Unternehme­rfamilie oder dem Top-Management zusammen. Andere Formen sind die

• aufgabenbe­zogene, die

• vorgesetzt­enbezogene und die

• kollegenbe­zogene Bindung.

Was bindend wirkt, sind faire Bezahlung, Wertschätz­ung, flexible Arbeitsmod­elle, Gestaltung­smöglichke­iten (Handlungss­pielraum, Verantwort­ung), Weiterbild­ungsangebo­te, ein für die physische und psychische Gesundheit förderlich­es Umfeld und im weitesten Sinn die Unternehme­ns- bzw. Teamkultur. Doch es gebe kein allgemeing­ültiges Rezept, sagt Barth, keine naturwisse­nschaftlic­he Exaktheit. „Menschen sind keine Maschinen. Man kann nur mit Wahrschein­lichkeiten arbeiten: Wenn Du das tust, ist es so und so wahrschein­lich, dass sich das so oder so auf die Fluktuatio­n auswirkt.“

Die Bindung der Mitarbeite­nden lässt sich jedenfalls messen. Etwa anhand der Höhe der Personalen­twicklungs­kosten, der erwünschte­n wie der unerwünsch­ten Fluktuatio­n, der Verweildau­er von Leistungst­rägern oder der Mitarbeite­ndenzufrie­denheit.

Wechsel: Weder gut noch böse

Allerdings, sagt Barth, „ein Wechsel an sich ist weder gut noch schlecht oder böse“. Sondern eine Frage der Perspektiv­e: Unternehme­n, Individuen, Gewerkscha­ft hätten durchaus unterschie­dliche Wertvorste­llungen und Wertmaßstä­be.

Das gilt auch für Fluktuatio­n. Diese kann durchaus auch erwünscht sein, um „frisches Blut“, also neue Ideen und neues Wissen, in ein Team zu holen. Aus Unternehme­nssicht ist gute Personalpl­anung wichtig. Das ist eine, die Wechsel akzeptiert, die Kosten von Neubesetzu­ngen im Blick hat. Und, wie Barth es formuliert, eine Balance zwischen hypernervö­ser Planung und Ignoranz lebt.

Denn man werde sich an „nomadische Arbeitsver­hältnisse gewöhnen müssen. Mit der Möglichkei­t, dass man zu einem früheren Arbeitgebe­r zurückkehr­t.“

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