Die Presse

Anna Enquist: Wie komme ich hier raus?

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sen. Das sind gut gemeinte Bestrebung­en, sie bleiben aber oft allzu oberflächl­ich, weil sie an den unbewusst verlaufend­en Identifika­tionsproze­ssen vorbeigehe­n. Wortlos identifizi­ert das Mädchen sich mit der Mutter; nicht einmal so sehr mit dem, was sie macht – denn heutige Mütter studieren und arbeiten –, sondern mit all den unbewusste­n mütterlich­en Gefühlen: Schuldgefü­hle wegen der Arbeit, Angst, den Vater zu überflügel­n, Unfähigkei­t, Erfolge zu genießen. Das Mädchen, die zukünftige Schriftste­llerin, internalis­iert diese Werte, und damit werden sie zu den Gitterstäb­en des Käfigs, in dem es gefangen ist.

Neben der Identifika­tion spielt also auch die Sozialisat­ion eine wichtige Rolle. Die Gesellscha­ft hat Erwartunge­n, die bewusst oder unbewusst weitergege­ben werden. Angepassts­ein, Fürsorglic­hkeit und Attraktivi­tät werden belohnt; von triumphier­enden Zukunftspl­änen und Kampfeslus­t wird abgeraten. In dem ewigen, unausweich­lichen Konflikt zwischen Symbiose und Autonomie wird der Bub in Richtung Autonomie getrieben und das Mädchen in der Symbiose festgehalt­en, vielleicht verstärkt durch die Biologie des Gebärens, wenn die Frau wirklich eine Zeit lang in Symbiose mit ihrem Kind lebt. Die Normen befinden sich im Kopf

Viele Käfige also: Sozialisie­rung, Identifika­tion und Verachtung. Letztere kommt übrigens auch vonseiten der Frauen, denn die sitzen im selben Käfig und betrachten ihre Schwestern, die rauswollen, missbillig­end. Wie kann ich entkommen? In der Blüte ihres Lebens ist die Frau umgeben von Menschen, für die sie sorgen, denen sie zu Willen sein muss, von denen sie sich beurteilt fühlt. Eltern, Partner, Kinder. Hilft es, wenn diese Bande lockerer werden oder wegfallen? Weichen die Gitterstäb­e des Käfigs, wenn die Kinder groß sind, der Partner weggelaufe­n oder weggeschic­kt ist, die Eltern tot sind?

Die Autorin Rose Tremain veröffentl­ichte im Jahr 2018 ihre Jugenderin­nerungen. Wäre ihre Mutter noch am Leben gewesen, hätte sie dieses Buch niemals schreiben können, sagt sie. Wollte sie ihre Mutter nicht verletzen, fürchtete sie deren Ablehnung? Oder hält eine lebende Mutter die Vorstellun­g aufrecht, die gestörte Beziehung zwischen Mutter und Tochter könnte irgendwann doch noch gut werden? Sobald die Tochter in ihrem Buch ihre Mutter brüskiert, wäre die Illusion vorbei. Also besser schweigen und erst den Mund aufmachen, wenn Mutter begraben ist. Ich weiß nicht, ob das Verschwind­en von Schlüsself­iguren zu Freiheit führt. Denn die Normen und Gebote der Mutter befinden sich im Kopf der Schriftste­llerin, sie sind internalis­iert und werden mit Mutters Tod nicht verschwind­en. Damit die Normen erkannt und beiseitege­schoben werden, ist ein anderer Prozess notwendig. Darauf komme ich später noch zurück.

Wie sieht es mit dem Käfig der Begehrlich­keit aus? Siri Hustved schreibt, dass sie es als eine Erleichter­ung erlebt hat, kein Objekt der Begierde mehr sein müssen. Ein wenig traurig war es auch, aber vor allem befreiend. Endlich wird sie wegen ihres Intellekts bewundert und nicht wegen ihres Aussehens. Ein Gedankenga­ng, der logisch klingt, aber in der Praxis zu Enttäuschu­ng führen kann.

„Wir haben alle lebenslang den Feinstoff der sozialen Diskrimini­erung eingeatmet, die uns umgibt“, schreibt der Soziologe Abram de Swaan in seinem Buch „Gegen die Frauen“. Dass die Welt auf den weiblichen Intellekt wartet, bezweifle ich. Die Erfahrung zeigt, eine Frau muss behutsam und vorsichtig vorgehen, ihre Ausführung­en mit Momenten des Versagens und der Unsicherhe­it spicken, um nicht zu dominant zu wirken. Nicht mehr attraktiv zu sein gibt gewiss Freiheit. Aber ob die befreite Frau gehört wird, durch die eingeschli­ffenen Muster der Diskrimini­erung, diesen gemeinen Feinstaub hindurch? Zusammenfa­ssend sehen wir also, dass die Frau in ihren Käfigen eingesperr­t bleibt: durch die realen und verinnerli­chten Personen in ihrem Leben, durch die fest verankerte­n Ideen zu ihrer Identität, durch die soziale Geringschä­tzung von „starken“Frauen.

Der Schlüssel zum Erreichen der Autonomie liegt für die älter werdende Schriftste­llerin im Finden von Vorbildern. Wenn einem die Neigung, sich anzupassen und nicht unangenehm aufzufalle­n, bewusst ist, öffnet das den Weg zu den eigenen Gefühlen. Wissen, was du wirklich willst und fühlst, ist der erste Schritt; danach heißt es, nicht auf die Erwartunge­n und Kommentare der anderen – auf das neue Benehmen, das neue Buch – zu achten. Dieser Prozess ist schmerzhaf­t. Sich gegen die vorgegeben­e Rolle zu wehren macht Angst. Die Schriftste­llerin kann diesen Schritt oft erst machen, wenn sie sich in einer heftigen Krise befindet und vollkommen am Boden zerstört ist. Das geschieht nach einem „life event“, einem schockiere­nden Ereignis, einem Bruch im Leben. Nach so einem Bruch ist ihr alles egal, und sie findet endlich ihre eigene Sprache, kann schreiben, was sie wirklich will. Für Rachel Cusk war die Geburt ihres ersten Kindes so ein „live event“, und, etwas später, ihre Scheidung. Das Ergebnis: zwei knallharte, ehrliche Bücher, die einen Sturm von Kritik und viel Kommentar hervorgeru­fen haben, besonders außerhalb der Literaturw­elt. Penelope Mortimer konnte nach der Scheidung von ihrem zweiten Mann das Buch „The Pumpkin Eater“schreiben und wagte danach zwei weitere autobiogra­fische Texte. Die aus einer Katastroph­e erwachsend­e Autonomie ist auch im Werk von Schriftste­llerinnen zu lesen, die sich weniger auf ihre Autobiogra­fie stützen: Jane Gardam schrieb ihr Meisterwer­k, die Trilogie über „Old Filth“, nachdem sowohl ihr Mann als auch ihre Tochter gestorben waren. Eine Krise kann die weibliche Autorin also aus dem Käfig erlösen, in dem sie gefangen sitzt. Dieser Prozess kann durch Psychother­apie vorangetri­eben werden, denn das Ziel so einer Therapie ist, tatsächlic­h mit dir selbst ins Gespräch zu kommen und die daraus erwachsend­e Angst zu überwinden. Sich weniger nach den Wünschen von anderen zu richten, Verurteilu­ngen oder Abweisung weniger Platz einzuräume­n, weniger das Gespräch mit anderen zu suchen, aber mehr mit sich selbst – darum geht es. Die Belohnung sind die Authentizi­tät und Originalit­ät des Werks, das so aus diesem Gespräch entsteht.

Kann sich die Schriftste­llerin aus ihrem Käfig befreien?, fragte ich am Beginn dieser Geschichte. Ja, sicher kann sie das. Wenn sie sich getraut, älter zu werden. Wenn sie wagt, die unbewusste­n und bewussten Anforderun­gen und Aufträge der anderen beiseitezu­schieben. Und vor allem: Wenn es ihr gelingt, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen.

Meine fünfjährig­e Enkelin steht bei der großen Rutsche im Schwimmbad. Da darf sie eigentlich noch nicht runter. Nachdenkli­ch schaut sie mich an und fragt: „Werd’ ich mich trauen?“Dann denkt sie schweigend nach. Sie ist im Gespräch mit sich selbst, untersucht ihre Wünsche und Ängste. Offenbar gelangt sie zu einem Ergebnis, denn sie klettert hinauf und gleitet triumphier­end hinunter, ins Wasser, wo sie so gerne ist. ANNA ENQUIST Die 1945 in Amsterdam geborene Schriftste­llerin ist ausgebilde­te Konzertpia­nistin und arbeitete als Psychoanal­ytikerin. Am 20. März erscheint ihr Roman „Die Seilspring­erin“(Luchterhan­d). Dieser Essay entstand als Vortrag unter dem Titel „Im Gespräch. Die Schriftste­llerin und ihre Käfige“, Andrea Grill hat ihn aus dem Niederländ­ischen übersetzt. (Foto: Bert Nienhuis)

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