Schlangen gegen Scheinwahl
Tausende Menschen reihten sich aus Protest gegen Wladimir Putin vor den Wahllokalen ein. Doch der alte Präsident dürfte auch der neue sein.
Die Menschen schauen sich vorsichtig um und reihen sich in die Schlange an der Schule Admiral Kusnezow im Westen Moskaus ein. Es ist Punkt 12 Uhr mittags in Moskau, Tag drei der Wahl eines Präsidenten in Russland, die keine Wahl zulässt und am Ende des Tages pompös den Sieger verkünden wird: Wladimir Putin, wieder zu dem gemacht, der er auch schon die vergangenen zwölf Jahre war.
Weder frei noch fair ist diese Wahl. Die Abstimmung ist eine perfekt inszenierte Legitimierungsmaßnahme der bestehenden Verhältnisse. Das Staatsfernsehen zeigt Menschen, die „zusammenstehen gegen den Westen“, „Patrioten unseres Landes“eben, sagt der Moderator. Die Zentrale Wahlkommission vermeldet bereits Sonntagfrüh eine Wahlbeteiligung von mehr als 60 Prozent. Auf Tschukotka im äußersten Osten des Landes liegt sie da bereits bei 80 Prozent, genau so hoch, wie vom Kreml vor einem halben Jahr vorgegeben. Ähnlich hoch sollen die Zahlen in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten sein, in denen niemand überprüfen kann, was an den Urnen abläuft.
Der Druck ist überall hoch. Staatsangestellten werden Prämien geboten, zur Wahl zu gehen, und damit gedroht, sie würden ihre Stelle verlieren, wenn sie nicht „für den Richtigen“stimmten. Soldaten, Ärztinnen, Lehrerinnen, Ministeriumsmitarbeiter treten zuweilen geschlossen an die Urne. Manche müssen einen Screenshot ihrer elektronischen Abstimmung an ihren Chef schicken. Viele tun das, um keinen Ärger zu haben.
Mittag gegen Putin
Auch jeder, der sich um 12 Uhr in die Schlange am roten Backsteingebäude unweit des Moskauer Ukrainski-Boulevards stellt, weiß um den Umstand, dass diese Abstimmung die am stärksten manipulierte Wahl in den vergangenen 30 Jahren ist. Sie wissen, dass der Kreml keinen Wert auf ihre Unzufriedenheit legt und sie als Verräter und Extremisten betrachtet. Und doch kommen sie, stehen hier, wie auch vor anderen Wahllokalen des Landes, um genau das zu demonstrieren: ihre Unzufriedenheit mit der Politik ihres Landes. „Mittag gegen Putin“haben verschiedene oppositionelle Kräfte die Aktion genannt, damit die Machthaber anhand der Warteschlangen um eine bestimmte Zeit sehen, dass das Land nicht so geschlossen ist, wie sie es in ihren Propagandasendungen weiszumachen versuchen.
Nawalnaja überraschend in Berlin
Auch in anderen Ländern wird dem Aufruf der Opposition gefolgt. In Berlin reiht sich überraschend die Witwe Nawalnys, Julia Nawalnaja, in die Warteschlange vor der russischen Botschaft ein. Teilweise stundenlang stellen sich mehrheitlich junge Menschen vor der russischen Botschaft in Wien an. Zum größten Ansturm kommt es auch hier kurz vor 12 Uhr. Anhänger Alexej Nawalnys haben noch rechtzeitig davor gegenüber der Botschaft in der Reisnerstraße in Wien Landstraße erneut eine improvisierte Gedenkstätte für den verstorbenen Oppositionsführer errichtet. Die Gedenkstätte ist am Samstagabend von Unbekannten zerstört worden.
Etwa 100 Menschen stehen am Wahllokal 2567 in Moskau an. „Ich stimme doch nicht für einen Mörder“, sagt Andrej. Er hat am Tag zuvor eine SMS der Behörden bekommen, nicht an der Aktion teilzunehmen. Denn diese weise „Anzeichen extremistischer Aktivitäten“auf. Der 43-Jährige und seine Frau haben trotz Einschüchterung bewusst die Entscheidung getroffen zu kommen. „Es ist ein Flashmob, eine leichte Variante einer politischen Aktion, wohl der letzte dünne Faden, an dem wir uns heute noch festhalten können. Ab morgen wird es schlimmer, die Repressionen werden zunehmen. Und wer weiß, was diesem Irren im Kreml noch alles einfallen wird“, sagt der Moskauer leise. Alexandra, schon weiter vorgerückt, sagt: „Es gibt in unserem Land kaum mehr Orte, an denen sich Kritiker des Systems finden dürfen. Das hier ist eine seltene legale Möglichkeit.“
Die ersten Festnahmen gibt es bereits kurz nach Sonntagmittag, weil einige Frauen Farbe in die Wahlurnen gegossen oder Wahlkabinen angezündet haben. Ihnen drohen nun bis zu fünf Jahre Haft. Währenddessen tanzen im Gorki-Park Hunderte von Menschen ausgelassen zur lauten Musik. „Ich bin hier, um zu feiern, nicht, um an das Morgen zu denken“, sagt eine Frau. Doch das Morgen ist schon da. Noch gehässiger und verhärteter, als es das die vergangenen Jahre war.