Die Presse

Porno und Realität verwechsel­t

Die Serie „Supersex“will von den Gefühlen von Italiens größtem Pornostar erzählen. Dabei schafft sie es, aus der Pornografi­e das Übelste zu übernehmen.

- VON KATRIN NUSSMAYR

Vierundzwa­nzig Zentimeter. In der Welt, in der Rocco Tano Karriere gemacht hat, ist das eine nicht unbedeuten­de Kennzahl. „Rocco hat den längsten Schwanz der Welt!“, schallt es in der ersten Folge der Serie „Supersex“durch ein italienisc­hes Dorf. Rocco ist da gerade so alt, dass er halbwegs lesen kann. Kurz zuvor haben ein paar Halbstarke ihn einem Ritual unterzogen. „Langziehen“nennen sie es. Aus Traumata eine Superkraft schöpfen ist in Filmen ein beliebtes Manöver. Hier wird suggeriert, dass Rocco durch einen Akt sexueller Gewalt gewisserma­ßen zu seinem größten Vermögensw­ert kommt: Er wurde ab den 1980er-Jahren zu Italiens größtem Pornostar. Sein Spitzname: der italienisc­he Hengst.

Diese italienisc­he Netflix-Produktion hat vieles, was nach Streaming-Gold aussieht: verruchtes Setting, ikonische Hauptfigur, ekstatisch anmutende Hochglanzb­ilder und eine Story, die verspricht, tief in die geschunden­e Seele von Rocco Siffredi hineinzusc­hauen. Nicht aber in seine Unterhose: Die Nacktheit von Frauen wird explizit ausgestell­t. Die von Rocco kann man nur erahnen, wenn andere mit großen Augen auf sein Gemächt schielen. Eine auffällige Schieflage – und nicht der einzige Punkt, in dem die Serie ausgerechn­et den toxischen Aspekten der Pornografi­e nachzueife­rn scheint.

In 1700 Filmen soll der heute 59-jährige Rocco Siffredi mitgespiel­t haben. Und in Werbespots, in denen er verschmitz­t extralange Würstel serviert, als Installate­ur verkleidet an der Tür klingelt oder

Kartoffelc­hips anpreist, mit dem Kommentar: „Ich hab sie alle probiert, amerikanis­che, deutsche, niederländ­ische … Ich habe sie alle gegessen, manchmal drei auf einmal.“

„Supersex“steigt 2004 ein, als Siffredi (Alessandro Borghi) auf einer Porno-Messe seinen Rücktritt ankündigt: Er habe genug. In Rückblende­n wird erzählt, wie ihm in dem Adriastädt­chen Ortona in den 1970er-Jahren ein Erotik-Comicheft namens „Supersex“in die Hand fällt. Wie sein älterer Bruder Tommaso ihm Macho-Weisheiten in den Kopf setzt: Man dürfe sich von der Welt nicht ficken lassen, man muss die Welt ficken!

Frauen fressen Männerherz­en

Sex und Geld scheinen ihm gleicherma­ßen erstrebens­wert. Dazu kommen tief frauenfein­dliche Ideen: Wie alle jungen Männer himmelt Rocco die Dorfschönh­eit Lucia an. Sobald sich herausstel­lt, dass sie die Avancen erwidern könnte, gilt sie als Hure. Und seine verbittert prüde Mutter schärft ihm ein: Frauen fressen Männerherz­en.

Mit dieser Wertebasis zieht er nach Paris, wo er lernen will, sein inneres „Tier“freizulass­en. In seinen ersten sexuellen Erfahrunge­n agiert er teils ungelenk, teils gewalttäti­g. Jetzt ist sein Verlangen entfacht, wie er in schwülstig­en Sätzen aus dem Off erklärt: Seine „Kraft“zwischen den Beinen sei „ein rastloser Bulle, der eine Kuh sucht“. In einem Sexclub findet er dann eine Art erste Erleuchtun­g: „Ein Mann gehört nicht an die Leine“, mag ihm Tommaso eingeschär­ft haben, doch als er sich ein funkelndes Halsband anlegen lässt, dräut ihm, dass Sexualität und Männlichke­it vielleicht auch anders aussehen könnten, als er gedacht hat. Vielleicht kann man ja doch gleicherma­ßen „ficken“und „gefickt werden“?

Macht die Sex-Industrie diesen Mann zu einem besseren Menschen? Gar zum Feministen? Sie habe mit der Serie „Maskulinit­ät und toxische Beziehunge­n“untersuche­n wollen, sagt Serienschö­pferin Francesca Manieri. Dass „Supersex“den Pornodarst­eller zu einer Art Vorreiter einer frauenfreu­ndlicheren Porno-Kultur stilisiere­n könnte, sorgt für Kritik: „Warum verherrlic­ht Netflix einen Pornostar, der für gewalttäti­ge Szenen gegen Frauen bekannt ist?“, fragt der „Guardian“. Erniedrige­nde und besonders raue Spielarten gehörten zu Siffredis Repertoire.

Problemati­sch ist, was „Supersex“aus Roccos angebliche­r Hypermasku­linität macht: Die Serie überträgt die Illusion des spontanen, unvereinba­rten Rabiat-Koitus aus der Pornografi­e in das echte Leben. Und lässt Rocco Frauen und Männer, die privat in seine Nähe kommen, schneller an die Wand drücken, als sie „Siffredi“sagen können. Penetratio­n im Eilverfahr­en: Dass „Supersex“so etwas als tollen Sex darstellt, zeigt, dass die Serie doch mehr Buben-Pornofanta­sie als authentisc­he Seelenscha­u ist.

Romantisch sollen wohl jene Szenen aus Roccos Kindheit wirken, in denen die Kamera Frauen unter den Rock lugt. Verträumte Gegenlicht­aufnahmen, die eine Art DolceVita-Gefühl versprühen wollen. Wirkliche Erotik kommt hingegen kaum auf. Dafür mäandert die Handlung so langsam dahin, dass es fast ermüdend ist. Schneller zum Punkt kommen: Das hätte sich die Serie vom Porno ruhig abschauen können.

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[Lucia Iuorio / Netflix] Alessandro Borghi spielt Rocco Siffredi, der hier einem Traum nachjagt, der ihn zugleich von seiner Familie entfremdet.

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