Porno und Realität verwechselt
Die Serie „Supersex“will von den Gefühlen von Italiens größtem Pornostar erzählen. Dabei schafft sie es, aus der Pornografie das Übelste zu übernehmen.
Vierundzwanzig Zentimeter. In der Welt, in der Rocco Tano Karriere gemacht hat, ist das eine nicht unbedeutende Kennzahl. „Rocco hat den längsten Schwanz der Welt!“, schallt es in der ersten Folge der Serie „Supersex“durch ein italienisches Dorf. Rocco ist da gerade so alt, dass er halbwegs lesen kann. Kurz zuvor haben ein paar Halbstarke ihn einem Ritual unterzogen. „Langziehen“nennen sie es. Aus Traumata eine Superkraft schöpfen ist in Filmen ein beliebtes Manöver. Hier wird suggeriert, dass Rocco durch einen Akt sexueller Gewalt gewissermaßen zu seinem größten Vermögenswert kommt: Er wurde ab den 1980er-Jahren zu Italiens größtem Pornostar. Sein Spitzname: der italienische Hengst.
Diese italienische Netflix-Produktion hat vieles, was nach Streaming-Gold aussieht: verruchtes Setting, ikonische Hauptfigur, ekstatisch anmutende Hochglanzbilder und eine Story, die verspricht, tief in die geschundene Seele von Rocco Siffredi hineinzuschauen. Nicht aber in seine Unterhose: Die Nacktheit von Frauen wird explizit ausgestellt. Die von Rocco kann man nur erahnen, wenn andere mit großen Augen auf sein Gemächt schielen. Eine auffällige Schieflage – und nicht der einzige Punkt, in dem die Serie ausgerechnet den toxischen Aspekten der Pornografie nachzueifern scheint.
In 1700 Filmen soll der heute 59-jährige Rocco Siffredi mitgespielt haben. Und in Werbespots, in denen er verschmitzt extralange Würstel serviert, als Installateur verkleidet an der Tür klingelt oder
Kartoffelchips anpreist, mit dem Kommentar: „Ich hab sie alle probiert, amerikanische, deutsche, niederländische … Ich habe sie alle gegessen, manchmal drei auf einmal.“
„Supersex“steigt 2004 ein, als Siffredi (Alessandro Borghi) auf einer Porno-Messe seinen Rücktritt ankündigt: Er habe genug. In Rückblenden wird erzählt, wie ihm in dem Adriastädtchen Ortona in den 1970er-Jahren ein Erotik-Comicheft namens „Supersex“in die Hand fällt. Wie sein älterer Bruder Tommaso ihm Macho-Weisheiten in den Kopf setzt: Man dürfe sich von der Welt nicht ficken lassen, man muss die Welt ficken!
Frauen fressen Männerherzen
Sex und Geld scheinen ihm gleichermaßen erstrebenswert. Dazu kommen tief frauenfeindliche Ideen: Wie alle jungen Männer himmelt Rocco die Dorfschönheit Lucia an. Sobald sich herausstellt, dass sie die Avancen erwidern könnte, gilt sie als Hure. Und seine verbittert prüde Mutter schärft ihm ein: Frauen fressen Männerherzen.
Mit dieser Wertebasis zieht er nach Paris, wo er lernen will, sein inneres „Tier“freizulassen. In seinen ersten sexuellen Erfahrungen agiert er teils ungelenk, teils gewalttätig. Jetzt ist sein Verlangen entfacht, wie er in schwülstigen Sätzen aus dem Off erklärt: Seine „Kraft“zwischen den Beinen sei „ein rastloser Bulle, der eine Kuh sucht“. In einem Sexclub findet er dann eine Art erste Erleuchtung: „Ein Mann gehört nicht an die Leine“, mag ihm Tommaso eingeschärft haben, doch als er sich ein funkelndes Halsband anlegen lässt, dräut ihm, dass Sexualität und Männlichkeit vielleicht auch anders aussehen könnten, als er gedacht hat. Vielleicht kann man ja doch gleichermaßen „ficken“und „gefickt werden“?
Macht die Sex-Industrie diesen Mann zu einem besseren Menschen? Gar zum Feministen? Sie habe mit der Serie „Maskulinität und toxische Beziehungen“untersuchen wollen, sagt Serienschöpferin Francesca Manieri. Dass „Supersex“den Pornodarsteller zu einer Art Vorreiter einer frauenfreundlicheren Porno-Kultur stilisieren könnte, sorgt für Kritik: „Warum verherrlicht Netflix einen Pornostar, der für gewalttätige Szenen gegen Frauen bekannt ist?“, fragt der „Guardian“. Erniedrigende und besonders raue Spielarten gehörten zu Siffredis Repertoire.
Problematisch ist, was „Supersex“aus Roccos angeblicher Hypermaskulinität macht: Die Serie überträgt die Illusion des spontanen, unvereinbarten Rabiat-Koitus aus der Pornografie in das echte Leben. Und lässt Rocco Frauen und Männer, die privat in seine Nähe kommen, schneller an die Wand drücken, als sie „Siffredi“sagen können. Penetration im Eilverfahren: Dass „Supersex“so etwas als tollen Sex darstellt, zeigt, dass die Serie doch mehr Buben-Pornofantasie als authentische Seelenschau ist.
Romantisch sollen wohl jene Szenen aus Roccos Kindheit wirken, in denen die Kamera Frauen unter den Rock lugt. Verträumte Gegenlichtaufnahmen, die eine Art DolceVita-Gefühl versprühen wollen. Wirkliche Erotik kommt hingegen kaum auf. Dafür mäandert die Handlung so langsam dahin, dass es fast ermüdend ist. Schneller zum Punkt kommen: Das hätte sich die Serie vom Porno ruhig abschauen können.