Die Presse

Heuchelei, Maßlosigke­it, #MeToo: Lest Molière!

Von Frankreich­s größtem Dichter lässt sich heute so viel lernen wie vor 350 Jahren.

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

Die Scheinheil­igkeit ist ein Modelaster, und alle Modelaster gelten als Tugenden: So lässt Molière seinen Don Juan im Stück „Dom Juan“sprechen, und ehe wir auf diese Einsicht eingehen wollen, sei ein via Wikipedia verbreitet­er Irrtum zerstreut: Das Stück heißt, im Gegensatz zu seinem Protagonis­ten, nicht deshalb „Dom Juan“, weil „Dom“die portugiesi­sche Form des „Herrn“ist, sondern, weil man das im Frankreich des 17. Jahrhunder­ts so gesagt und geschriebe­n hat – das eigentlich­e, dem ursprüngli­chen Text getreue Stück aber nach nur 15 Aufführung­en 1665 erst im Jahr 1841 wieder auf die Bühne kam. Und dar war aus „Dom“schon „Don“geworden. Ich darf das, auch wenn ich kein Theaterwis­senschaftl­er bin, mit Gewissheit schreiben, denn ich habe mir den Originalte­xt aus der exzellente­n Reihe des „Univers des lettres Bordas“in meiner öffentlich­en Bibliothek in Brüssel ausgeborgt. Anlass war ein Gastauftri­tt des wunderbare­n „Nouveau Théâtre populaire“, einer freien Theaterkom­pagnie, die seit 15 Jahren im 1000-Einwohner-Weiler Fontaine-Guérin nahe Angers an der Loire ein fantastisc­hes Theaterfes­t veranstalt­et.

Was für eine Freude, diese Inszenieru­ng! Und wie lohnend ist es, diesen barocken Text zu Hause noch einmal in Ruhe zu lesen. Denn die Welt Molières, unter Louis XIV., sie war der unseren gar nicht so unähnlich. Der gewissenlo­se Schürzenjä­ger Don Juan ähnelt jenen, wie man heute sagt, toxischen Männern, die als selbst ernannte „Pick-up-Artists“Frauen und Mädchen zu Trophäen ihrer maßlosen Eitelkeit erniedrige­n. Wo (Achtung, Spoiler Alert) Molières Herr Johann jedoch von der Hand der Statue des Komtur seine verdiente Strafe erfährt, erwischt es seine heutigen Widergänge­r unter dem Zeichen von #MeToo. Vielleicht täten die Don Juans und Don Giovannis damals wie heute gut daran, auf die Warnungen ihres treuen Dieners Sganarelle (Mozarts Leporello) zu hören.

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