Zwischen Sein und japanischem Schein
Japans Börse markierte monatelang nur neue Rekorde. Zuletzt korrigierte sie. Die Preise erwiesen sich als künstlich – und von der Realwirtschaft stark entkoppelt.
Tokio. Einen Tag vor der Zinsentscheidung der japanischen Zentralbank (BoJ) am Dienstag zeigte sich der dortige Leitindex Nikkei 225 am Montag plötzlich wieder von der starken Seite. Konkret schloss er um 2,7 Prozent fester bei 39.740 Punkten. Der Markt hoffte abermals auf die notorische Sanftheit der BoJ. Zwar wurde am Montag erwartet, dass sie nach acht Jahren negativer Zinssätze nun doch das Ende der ultralockeren Geldpolitik einläutet, aber dass sie dabei eben doch sehr vorsichtig vorgeht.
Die Hoffnung überwog also die Irritation der vergangenen Tage. In diesen nämlich waren die Zahlen nach Monaten der Rekordjagd plötzlich rot gewesen: Drei Tage in Folge hatte der Leitindex negativ geschlossen. Von seinem Rekordhoch bei 40.293 Punkten am 7. März war er bis zum 12. März auf 38.321 Punkte gefallen. Wenn die BoJ am Dienstag nicht vorsichtig vorgeht, könnte dies weitere Verluste bedeuten.
Wunsch und Wirklichkeit
Seit Anfang 2023, als der Nikkei 225 bei 25.700 Punkten stand, kannte er praktisch nur die Richtung nach oben. Ende Februar 2024 dann war ihm die Sensation gelungen, dass er erstmals in seiner 74-jährigen Geschichte den Wert von 38.915 Punkten übersprang und damit einen dreieinhalb Jahrzehnte alten Höchstwert pulverisierte. Spekulationen reichten in den vergangenen Tagen bis zu 55.000 Punkten. Dies sagte etwa der Kapitalmarktanalyst Jesper Koll von der Analysefirma Monex gegenüber dem US-Sender CNBC. Denn mehr als die US-Unternehmen seien die japanischen stets darauf bedacht, zu den Aktienwerten ihrer Unternehmen auch passende Fundamentaldaten zu liefern. Durch Effizienzreformen bildeten Japans Firmen heute eine „wertschöpfende Supermacht“.
Was Analysten wie Koll womöglich übersehen: Der Nikkei 225 ist von exportorientierten Konzernen geprägt. Die japanische Wirtschaft als Ganzes hat mit dem Höhenflug der Börse wenig zu tun. Derzeit befindet sich das ostasiatische Land nahe einer Rezession. Bei stagnierenden Löhnen macht sich schon die mit rund zwei Prozent noch relativ niedrige Inflationsrate in deutlichen Reallohnverlusten bemerkbar. Und ein größeres Wachstum der Wirtschaft ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil der seit Jahrzehnten alternden Gesellschaft die Arbeitskräfte ausgehen. Die Arbeitsbevölkerung schrumpft seit über einem Jahrzehnt, wodurch bis auf Weiteres schon eine in absoluten Zahlen konstante Wirtschaftsleistung als De-facto-Wachstum gelten könnte – aber so denkt auf dem Kapitalmarkt kaum jemand. Dort zählt eher das Prinzip „Höher, schneller, weiter“. Japans Altersökonomie hat damit zusehend wenig zu tun.
Schlechte Erfahrung
Auch um diesem demografischen Trend entgegenzuwirken, fährt die Zentralbank seit gut zwei Jahrzehnten eine radikale Nullzinspolitik mit regelmäßigen Staatsanleihekäufen und weiteren Marktinterventionen. Dass die BOJ auch
trotz Nachwehen der Pandemie und des Ukraine-Kriegs ihrer Nullzinspolitik bis jetzt treu geblieben ist, wurde dadurch begründet, dass Japan eben noch nicht die gewünschten Wachstumswerte erreicht habe.
Allerdings könnte dies schon wegen der demografischen Lage auch in Zukunft schwierig werden – und eine Leitzinserhöhung könnte der Realwirtschaft, die sich über zweieinhalb Jahrzehnte an billiges Geld gewöhnt hat, einen tiefen Schock verpassen. Dies war die Erfahrung ab 1990: Damals erhöhte die BOJ abrupt den Leitzins, nachdem sich über Jahre eine Börsenblase aufgebläht hatte – angefüttert durch eine lange Niedrigzinsphase und großen Appetit von Spekulanten. Seinen bis vor Kurzem historischen Höchstpunkt erreichte der Nikkei 225 im Dezember 1989 – auf dem Höhepunkt dessen, was man in Japan „babburu jidai“nennt: die Ära der Blase. Ist der heutige Boom eine neue Blase? Dass die Aktienkurse zuletzt korrigiert haben, zeigt jedenfalls, dass der jahrelange Boom auch durch die Interventionen der BOJ gefüttert worden ist.
Vor einer Woche verdeutlichten Daten, dass die BOJ keine japanischen börsengehandelten Aktienfonds (ETFs) aufgekauft hatte, obwohl der breiter als der Nikkei 225 gestreute Index Topix deutliche Wertverluste gezeigt hatte. Zuletzt war die BOJ in solchen Fällen eingeschritten, um Kursverfälle zu vermeiden. Dass sich ein Fernbleiben der BOJ vom Markt nun deutlich bemerkbar gemacht hat, verwundert nicht: Die BOJ ist über die vergangenen Jahre zu der größten Aktionärin auf dem heimischen Markt geworden.
An billige Schulden gewöhnt
Zuvor hat BOJ-Gouverneur Kazuo Ueda verkündet, man werde das weitere Stützen des Markts durch ETF-Aufkäufe prüfen, sobald das Inflationsziel von zwei Prozent erreicht sei. Nun ist diese Marke zwar erreicht, aber ein Zeichen für Wirtschaftswachstum und Erholung ist sie in Japans Fall nicht gerade.
Nach Schätzungen der Analysefirme Teikoku Databank haben sich 17 Prozent der Betriebe im Land längst daran gewöhnt, Verbindlichkeiten durch billige Schulden zu refinanzieren. Würde diese Praxis plötzlich teurer, stünde demnach eine Viertelmillion Betriebe vor der Pleite.