12.652 Teufel in einer einzigen 16-Jährigen?
Ein Dämon namens Sauspieß, dramatische Teufelsaustreibungen und heutige Revivals: Ein Buch erzählt die Geschichte des Exorzismus in Österreich.
Wie kam es, dass sich Sigmund Freud für einen Malergesellen aus dem 17. Jahrhundert zu interessieren begann? Die Antwort hängt in der Wallfahrtskirche Mariazell. Auf einem Triptychon hat besagter Mann, Johann Christoph Haitzmann, seine Begegnungen mit und die Befreiung vom Teufel gezeichnet: Der sei ihm zuerst als reicher Bürger erschienen, dann in „wahrer“Gestalt mit Greifsfüßen etc. Nach Krämpfen, die ihn 1677 in der Kirche von Pottenbrunn nahe St. Pölten befielen, gab er an, einen Teufelspakt eingegangen zu sein, zum Dank für seine Heilung trat er später in den Orden der Barmherzigen Brüder ein.
Alles Unsinn? Für Sigmund Freud mitnichten. „Die dämonologische Theorie jener dunklen Zeiten hat gegen alle somatischen Auffassungen der ,exakten’ Wissenschaftsperiode recht behalten”, schrieb er in einem Artikel mit dem Titel „Eine Teufelsneurose im
17. Jahrhundert”. „Die Besessenheiten entsprechen unseren Neurosen, zu deren Erklärung wir wieder psychische Mächte heranziehen. Die Dämonen sind uns böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Triebregionen. Wir lehnen bloß die Projektion in die äußere Welt ab …“
Die Vorgeschichte solcher Umdeutungen, wenn auch nicht im Sinn der modernen Psychologie, hat lange vor Freud begonnen. Zunehmend schon seit der Aufklärung wurden religiöse Besessenheits-Diagnosen zunehmend in Frage gestellt, wie man im Buch „Dämonen. Besessenheit und Exorzismus in der Geschichte Österreichs” lesen kann: Verfasst haben es ein Historiker (Gerhard Ammerer), eine Religionswissenschaftlerin und Psychotherapeutin (Nicole Bauer) sowie ein auf die Geschichte mentaler Gesundheit und Krankheit spezialisierter Soziologe und Historiker (Carlos Watzka).
Im 19. Jahrhundert mehrten sich Betrugsprozesse gegen angebliche Opfer oder auch selbst ernannte Exorzisten wie den Pfarrer Johann Joseph Gaßner. Ihm verbat Kaiser Joseph II. 1775, auch nur irgendwo im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zu praktizieren. Auch in der Frühen Neuzeit gab es viel Skepsis und Hinterfragen konkreter Besessenheitsfälle, auch wenn sogar die kritischsten Geister grundsätzlich glaubten, dass der Teufel auf und in Menschen wirken könne. Und selbst im Mittelalter, schreiben die Autoren, hätten die Menschen „zunächst wohl” nach natürlichen Heilmitteln gesucht, und erst wenn diese versagten, übernatürliche Ursachen vermutet.
„Ich exorziere dich, Wasser . . .“
Psychisch stark abweichende, beängstigende, aggressive Zustände, bei denen Menschen nicht „sie selbst“scheinen (und die heute mit psychischen Krankheiten assoziiert werden), als Besessenheit von etwas „Bösem“zu deuten – das scheint nicht so abwegig in Gesellschaften, denen andere Erklärungsmodelle fehl(t)en. Zumal weit bis in die Neuzeit exorzierende Praktiken den Alltag durchsetzten. Der Teufel konnte demnach fast alles befallen, Orte, Dinge, Pflanzen, Essen … Das Salzburgische Priesterhandbuch von 1575 etwa enthält eine Formel für einen Wasser-Exorzismus: „Ich exorziere Dich Kreatur des Wassers im Namen Gott Vaters des Allmächtigen (. . .), damit du exorziertes Wasser wirst …” Rituale der Dämonenaustreibung an Menschen waren nur das spektakuläre (und seltene) Extrem.
Die offiziellen Exorzismusvorschriften des Vatikan im 1614 veröffentlichten „Rituale Romanum” machten Besessenheit im Wesentlichen an drei Anzeichen fest: Sprechen oder Verstehen einer fremden Sprache, Offenbaren von entfernten oder verborgenen Dingen sowie zu Alter und Konstitution nicht passende Körperkraft. Doch diese vergleichsweise restriktiven Kriterien wurden meist nicht eingehalten. Da zuweilen bis zu Tausende Dämonen in einem Menschen vermutet wurden, verliefen die Austreibungen oft lang und oft dramatisch, es konnte auch zu Handgemengen kommen. Anders als bei den (früh)neuzeitlichen Hexenprozessen standen im Mittelpunkt des Exorzismus eindeutige Opfer, es galt, ihnen zu helfen (wobei die Frage nach möglicher Verhexung durch andere zu einem Hexereiprozess führen konnte). Doch es konnte auch für sie gefährlich werden. So war etwa die Einnahme von großen Mengen geweihten Salzes ein Mittel, um die Dämonen zum „Ausfahren” zu bewegen. Andere Mittel gegen die Dämonen waren Schläge, Rutenstreiche, Würgen mit der Stola … Und das bisweilen über Wochen hinweg.
In Österreich am ausführlichsten dokumentiert sind mehrere Exorzismen an Frauen in der Zeit der Gegenreformation, als der Glaube an das konkrete Wirken des Teufels (auch als Erklärung des Protestantismus) besonders blühte. Besonders bekannt ist der Fall der Anna Schlutterbauer 1583, beschrieben in „Christliche Erinnerung bey der Historien von jüngst beschehener Erledigung einer Junckfrawen, die mit zwölfftausent, sechs hundert, zwey und fünfftzig Teufel besessen gewesen“. Hauptbeteiligter und Verfasser des Berichts war der prominente österreichische Jesuit Georg Scherer, Domprediger in St. Stephan. Anna war eine 16-Jährige, die von Ärzten als leicht „schwachsinnig” diagnostiziert wurde. Scherer schreibt, sie sei von 12.652 Dämonen besessen gewesen. Die Austreibung führte zur Hinrichtung ihrer Großmutter: Die 70-jährige Kleinhäusler-Witwe aus der Region um Melk verbrannte auf dem Scheiterhaufen. Ihr Schwiegersohn, Annas Vater, hatte sie der Hexerei beschuldigt.
Graz: Monatelange Teufelsaustreibung
Ein anderer Exorzismus, gegen die 23-jährige Katharina Herbst 1599 in Graz, dauerte Monate. Höchste weltliche und geistliche Würdenträger wurden involviert, es war ein öffentliches „Event”. Der Bericht darüber beschreibt etwa, wie Ober- und Unterteufel das Gesicht des Opfers in verschiedensten Varianten entstellten: Sie „zerzerten der Besessnen das Gesicht einer nach dem andern (. . .) der erste verwandt ir das Gesicht kolschwartz (. . .) man sahe weder Stirn, weder Augen, noch Maul, noch Nasen nit”. Vorschriftsmäßig nach den Namen der zahlreichen Dämonen befragt, nannte Katharina Herbst etwa „Hornisse” oder „Sauspieß”.
Im 19. Jahrhundert wurde der Teufelsglaube durch die sich säkularisierenden Eliten ins Eck gedrängt. Spöttisch berichtete etwa 1877 die damalige Zeitung „Die Presse“: „Eine biedere Bäuerin machte eines Tages die Entdeckung, dass an ihren Kühen etwas nicht in Ordnung sei.“Sie habe den nächstgelegenen Grazer Vorstadtpfarrer aufgesucht „mit der Bitte, die Hexe aus dem widerrechtlich occupirten Stalle zu vertreiben.“Der Pfarrer habe es der Frau „mit energischen Worten aus dem Hirne“geredet, worauf die Frau schnurstracks ins nächste Kloster gelaufen sei – „siehe da, die Leute im Wallfahrtskloster waren frömmer als der rationalistische Pfarrer. Ein Mönchlein erscheint im Stalle, verrichtet seinen Exorcismus und – die Hexe ist hinausgebetet, verjagt, vernichtet.”
Die Vorstellung, dass böse Geister in Menschen wohnen und ausgetrieben werden können, lebt aber nach wie vor an vielen Orten der Welt, und nicht einmal in Österreich ist sie ausgestorben, eher wieder etwas mehr im Kommen: durch die konfessionsübergreifende charismatische Erneuerungsbewegung etwa, die eine eigene „Internationale Vereinigung für den Befreiungsdienst“hat, oder durch evangelikale Gruppen und Freikirchen. Auch einige islamische Heiler gibt es in Österreich. Exorzismus in Österreich – die Geschichte ist noch nicht zu Ende.