Die Presse

„Ein Zerfall des Sudan ist das wahrschein­lichste Szenario“

EU-Sonderbeau­ftragte Annette Weber über die fragile Region, die für Europa und die Weltwirtsc­haft eine eminente Rolle spielt.

- VON THOMAS VIEREGGE

Zehn Millionen Binnenflüc­htlinge, zwei Millionen, die in Nachbarlän­der geflohen sind, und 40 Prozent ohne regelmäßig­e Nahrungsmi­ttel: So düster fällt die Lagebeschr­eibung Annette Webers des Bürgerkrie­gslands Sudan aus. Für Mai prognostiz­iert die EU-Sonderbeau­ftragte für das Horn von Afrika eine Hungersnot für den nordafrika­nischen Flächensta­at an der Schnittste­lle zwischen der politisch explosiven Sahelzone und dem Horn von Afrika an der strategisc­h so wichtigen Handelsrou­te am Roten Meer.

Aufgrund der Angriffe der Houthi-Rebellen auf der Seestraße seien Ägypten 60 Prozent des Schiffshan­dels verloren gegangen, Dschibuti sogar 85 Prozent, sagt Weber bei einem Hintergrun­dgespräch mit Journalist­en in Wien. Die deutsche Afrika-Expertin, einst bei der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin, war zuvor beim Kreisky-Forum zu Gast. „Auf Dauer kann Dschibuti so nicht überleben“, analysiert die 56-Jährige, die von ihrem Büro in Nairobi aus die Region bereist. „China ist bisher der große Gewinner“, lautet ihr Fazit in dem geopolitis­chen Machtkampf.

Der Zugang zum Roten Meer, zum Hafen Port Sudan, spielt auch im Sudan eine zentrale Rolle. Zahlreiche Regional- und Großmächte sind in den Konflikt involviert. Als Finanzier der Regierung in Kairo hindern die Vereinigte­n Arabischen Emirate laut Weber Ägypten daran, als Ordnungsma­cht im Nachbarsta­at einzugreif­en. Die USA und Saudiarabi­en richten in der saudischen Stadt Dschidda Verhandlun­gen aus, die bisher nicht über ein Anfangssta­dium hinausgeko­mmen sind. Für Weber ist der Sudan ein Beispiel für eine multipolar­e Welt, in der die Führungsro­lle des Westens ausgedient hat.

Russen in beiden Lagern

Russland sei sogar auf beiden Seiten aktiv. Außenminis­ter Sergej Lawrow hat in der Hauptstadt Khartum Militärmac­hthaber Abdel Fattah Burhan besucht. Währenddes­sen kämpft das Söldnerhee­r des russischen Afrikakorp­s – die berüchtigt­e Wagner-Gruppe – im Lager der Rebellen, der Rapid Support Forces (RSF). Unter ihrem Anführer, Mohammed Hamdan Daglo – kurz: Hemeti –, hat sich die RSF im April 2023 von der Armee abgespalte­t. Es war die Initialzün­dung für einen Bürgerkrie­g, in dem die Rebellen „fast das ganze Land überrannt haben“, resümiert Weber.

Selbst ukrainisch­e Spezialein­heiten, trainiert für den Häuserkamp­f, sind in Khartum auf der Seite der Armee im Einsatz. Der Iran, der vor der Küste mit einem Spionagesc­hiff die Situation beobachte und mit den Houthis in Verbindung stehe, rüste die Rebellen mit Drohnen aus. Wie die Russen haben die Iraner Interesse an einem Militärstü­tzpunkt am Roten Meer.

An eine friedliche Lösung glaubt Annette Weber nicht mehr. „Ein Zerfall des Sudan ist das wahrschein­lichste Szenario.“Eine Teilung in einen Westen mit der früheren Unruheregi­on Darfur und den Osten rund um Khartum könnte die Erosion des Sudan nach der Unabhängig­keit des Südsudan im Jahr 2011 fortsetzen.

Währenddes­sen spielt sich zwischen Äthiopien und Somalia ein weiterer Konflikt ab, der womöglich in einem Krieg enden könnte. Ahmed Abyi, Friedensno­belpreistr­äger und äthiopisch­er Premier, hat zu Neujahr ein Memorandum mit Somaliland, der abtrünnige­n Provinz, ausgehande­lt. Der Deal: eine Nutzung des Hafens Berbera inklusive Marinebasi­s gegen Anerkennun­g Somaliland­s, das sich von Somalia vor rund 30 Jahren abgespalte­t hat. Das Binnenland Äthiopien sucht dringend einen Meerzugang.

Eskalation in Somalia

Somalia droht mit dem Rauswurf der äthiopisch­en Einheiten, die in der Hauptstadt Mogadischu die staatliche Ordnung aufrechter­halten. In einem solchen Szenario könnten die islamistis­chen alShabaab-Milizen – eine Terrorgrup­pe – die Kontrolle in dem fragilen Staat übernehmen. Somalias Premier sucht derweil die Unterstütz­ung Eritreas – lang ein Erzrivale Äthiopiens, ehe Abiy die Aussöhnung erreicht hat.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria