„Ein Zerfall des Sudan ist das wahrscheinlichste Szenario“
EU-Sonderbeauftragte Annette Weber über die fragile Region, die für Europa und die Weltwirtschaft eine eminente Rolle spielt.
Zehn Millionen Binnenflüchtlinge, zwei Millionen, die in Nachbarländer geflohen sind, und 40 Prozent ohne regelmäßige Nahrungsmittel: So düster fällt die Lagebeschreibung Annette Webers des Bürgerkriegslands Sudan aus. Für Mai prognostiziert die EU-Sonderbeauftragte für das Horn von Afrika eine Hungersnot für den nordafrikanischen Flächenstaat an der Schnittstelle zwischen der politisch explosiven Sahelzone und dem Horn von Afrika an der strategisch so wichtigen Handelsroute am Roten Meer.
Aufgrund der Angriffe der Houthi-Rebellen auf der Seestraße seien Ägypten 60 Prozent des Schiffshandels verloren gegangen, Dschibuti sogar 85 Prozent, sagt Weber bei einem Hintergrundgespräch mit Journalisten in Wien. Die deutsche Afrika-Expertin, einst bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, war zuvor beim Kreisky-Forum zu Gast. „Auf Dauer kann Dschibuti so nicht überleben“, analysiert die 56-Jährige, die von ihrem Büro in Nairobi aus die Region bereist. „China ist bisher der große Gewinner“, lautet ihr Fazit in dem geopolitischen Machtkampf.
Der Zugang zum Roten Meer, zum Hafen Port Sudan, spielt auch im Sudan eine zentrale Rolle. Zahlreiche Regional- und Großmächte sind in den Konflikt involviert. Als Finanzier der Regierung in Kairo hindern die Vereinigten Arabischen Emirate laut Weber Ägypten daran, als Ordnungsmacht im Nachbarstaat einzugreifen. Die USA und Saudiarabien richten in der saudischen Stadt Dschidda Verhandlungen aus, die bisher nicht über ein Anfangsstadium hinausgekommen sind. Für Weber ist der Sudan ein Beispiel für eine multipolare Welt, in der die Führungsrolle des Westens ausgedient hat.
Russen in beiden Lagern
Russland sei sogar auf beiden Seiten aktiv. Außenminister Sergej Lawrow hat in der Hauptstadt Khartum Militärmachthaber Abdel Fattah Burhan besucht. Währenddessen kämpft das Söldnerheer des russischen Afrikakorps – die berüchtigte Wagner-Gruppe – im Lager der Rebellen, der Rapid Support Forces (RSF). Unter ihrem Anführer, Mohammed Hamdan Daglo – kurz: Hemeti –, hat sich die RSF im April 2023 von der Armee abgespaltet. Es war die Initialzündung für einen Bürgerkrieg, in dem die Rebellen „fast das ganze Land überrannt haben“, resümiert Weber.
Selbst ukrainische Spezialeinheiten, trainiert für den Häuserkampf, sind in Khartum auf der Seite der Armee im Einsatz. Der Iran, der vor der Küste mit einem Spionageschiff die Situation beobachte und mit den Houthis in Verbindung stehe, rüste die Rebellen mit Drohnen aus. Wie die Russen haben die Iraner Interesse an einem Militärstützpunkt am Roten Meer.
An eine friedliche Lösung glaubt Annette Weber nicht mehr. „Ein Zerfall des Sudan ist das wahrscheinlichste Szenario.“Eine Teilung in einen Westen mit der früheren Unruheregion Darfur und den Osten rund um Khartum könnte die Erosion des Sudan nach der Unabhängigkeit des Südsudan im Jahr 2011 fortsetzen.
Währenddessen spielt sich zwischen Äthiopien und Somalia ein weiterer Konflikt ab, der womöglich in einem Krieg enden könnte. Ahmed Abyi, Friedensnobelpreisträger und äthiopischer Premier, hat zu Neujahr ein Memorandum mit Somaliland, der abtrünnigen Provinz, ausgehandelt. Der Deal: eine Nutzung des Hafens Berbera inklusive Marinebasis gegen Anerkennung Somalilands, das sich von Somalia vor rund 30 Jahren abgespaltet hat. Das Binnenland Äthiopien sucht dringend einen Meerzugang.
Eskalation in Somalia
Somalia droht mit dem Rauswurf der äthiopischen Einheiten, die in der Hauptstadt Mogadischu die staatliche Ordnung aufrechterhalten. In einem solchen Szenario könnten die islamistischen alShabaab-Milizen – eine Terrorgruppe – die Kontrolle in dem fragilen Staat übernehmen. Somalias Premier sucht derweil die Unterstützung Eritreas – lang ein Erzrivale Äthiopiens, ehe Abiy die Aussöhnung erreicht hat.