Ist der Papst naiv oder leichtsinnig?
Die Aussagen des Papstes zum Krieg gegen die Ukraine sind nicht nur realistisch, sondern höchst angebracht.
Kürzlich rief Papst Franziskus zu Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg auf. Seine Äußerungen stießen weithin auf Ablehnung, ja Empörung. Hauptstein des Anstoßes war wohl seine Aussage, derjenige in einem Krieg zeige Stärke, „der an das Volk denkt, der den Mut hat, die weiße Fahne zu hissen und zu verhandeln“.
Man kann aus verschiedenen Gründen gegen diese Äußerungen sein. Ein erster wäre, dass sein Aufruf der radikalen Friedenslehre des Neuen Testaments entspricht (Wenn einer dich auf die linke Backe schlägt, halte ihm auch die rechte hin). Dies ist aber realitätsfern, selbst für einen Christen. Jesus meinte das wohl nicht wörtlich. Als ihm ein Gerichtsdiener eine Ohrfeige gibt, fragt er diesen, warum er ihn geschlagen habe. Er sagt: „Habe ich etwas Unrechtes gesagt, so beweise es mir, habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“Die Lehre der Bibel lautet also: Nimm Unrecht nicht einfach hin, aber antworte nicht mit Gewalt, sondern mit Argumenten dagegen.
Waren die Argumente des Papstes falsch? Er sagte: „… zwei Jahre sind seit Beginn dieses absurden und grausigen Kriegs vergangen. Die Bilanz der Toten, Verletzten, Flüchtlinge, isolierten Menschen, der Zerstörungen, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden, spricht für sich selbst.“Und: „Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben zu verhandeln … Ich denke, dass derjenige stärker ist, der die Situation erkennt, der an das Volk denkt, der den Mut der weißen Fahne hat, zu verhandeln.“Inzwischen stimmen alle Militäranalytiker darin überein, dass der Krieg in eine Pattsituation geraten ist, Russland sogar (vor allem auf längere Sicht) die Oberhand zu gewinnen scheint. Seine Fortführung würde daher der Ukraine nichts außer zusätzlichen Toten, Verletzten, Invaliden und Zerstörungen bringen.
Ein dritter Grund, die Äußerungen des Papstes abzulehnen, ist eine grundsätzliche Ablehnung von Friedensverhandlungen. Eine solche Haltung kommt zum Ausdruck in Begriffen wie „diplomatischer Fehlgriff“, „Fettnäpfchen-Diplomatie“. Eine solche Ablehnung steht wohl hinter Kritikern, die die Aussagen des Papstes tendenziell verdrehen. So lautet ein Haupteinwand, der Papst habe den Hauptschuldigen, Putins Russland, nicht beim Namen genannt. Er hat aber gesagt: „Ich appelliere an alle, die in den Nationen Autorität haben, dass sie sich konkret für ein Ende des Konflikts einsetzen, für eine Waffenruhe, für Friedensverhandlungen.“Ja, Putin wurde nicht genannt, aber auch nicht die Ukraine. Friedensverhandlungen, die mit Anschuldigungen des Gegners beginnen, werden kaum erfolgreich sein.
Eine Unterstellung ist auch, der Papst habe die Ukraine faktisch zur Kapitulation aufgefordert. Ein Waffenstillstand bedeutet aber keine Kapitulation; die Bedingungen für einen Frieden sind dann durch Verhandlungen auszuloten. Für den Waffenstillstand müssten der Ukraine natürlich effektive Sicherheiten geboten werden, etwa eine Entsendung von Bodentruppen, wie von Frankreichs Präsident Macron ins Spiel gebracht wurde.
Verhandlungen unabdingbar
Einen Frieden um jeden Preis kann man nicht anstreben. Der Papst sieht aber Verhandlungen als unabdingbar, wenn die Kosten des Krieges alles übersteigen, was durch seine Weiterführung erreicht werden kann. Dies ist in der Ukraine heute eindeutig der Fall. Die Aussagen des Papstes sind daher nicht nur realistisch, sondern zum jetzigen Zeitpunkt auch höchst angebracht.
Max Haller (*1947) ist em. Professor für Soziologie der Universität Graz und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In Kürze erscheint sein Buch „Vom Freiheitskampf zum Stellvertreterkrieg. Der Ukrainekrieg im Licht der Friedenstheorie von Kant“.