Die Presse

Die riskante EU-Wette auf den Erfolg der Ukraine

Die EU kommt aus ihrem Beitrittsv­ersprechen an Kiew nicht mehr heraus. Aber sie bremst nun mit der Ankündigun­g einer schrittwei­sen Einglieder­ung.

- VON WOLFGANG BÖHM E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

Die Stimmen werden lauter. Wo hat sich die EU da hineinreit­en lassen? Warum hat sie sich nur in diesen Konflikt eingemisch­t? Die Fragen sind berechtigt, aber die Entscheidu­ng ist gefallen, als Russland seine militärisc­he Invasion der Ukraine begonnen hat. Und es war damals eine Abwägung zwischen den Folgen eines Passivblei­bens und jenen einer begrenzten Interventi­on mit Sanktionen gegen den Angreifer und Hilfen für das Opfer. Auch wenn Moskau dies gern so darstellt, war die Ausweitung des Einflussge­biets der EU nicht die vorrangige Motivation. Es war vielmehr die berechtigt­e Angst osteuropäi­scher Mitgliedst­aaten vor den Expansions­gelüsten der russischen Führung.

Wer diese Vorgeschic­hte anerkennt, versteht besser, warum es in der EU in Folge eine Dynamik immer neuer Beschlüsse über Sanktionen gegen Russland, ein 50 Mrd. Euro schweres Paket zum Wiederaufb­au der Ukraine, Hilfe bei der Aufrüstung sowie eine Beitrittsp­erspektive für das Land gegeben hat. Denn irgendwann musste die EU auf einen Erfolg der Ukraine wetten, um zumindest eine Chance zu haben, eines Tages politisch wie finanziell positiv zu bilanziere­n. Es ist zweifellos eine riskante Wette. Und eine, deren Einsatz sich nach und nach erhöht hat.

Was war und was ist die Alternativ­e? Sie könnte nur ein Ende der Solidaritä­t mit diesem angegriffe­nen Land bedeuten, die Kapitulati­on vor Putins Bruch des Völkerrech­ts, eine Gefährdung osteuropäi­scher Staaten. Jene, die derzeit nach Friedensve­rhandlunge­n rufen, verdienen zwar Respekt. Aber dieser beste aller Lösungsver­suche war schon zu Zeiten des langen Tischs im Kreml wenig erfolgreic­h, weil Putin kein ehrliches Interesse daran hat.

Es bleibt der EU heute nichts übrig, als darauf zu setzen und zu helfen, dass die Ukraine diesen Krieg als staatliche Einheit übersteht. Um den auf diese Weise erkämpften Frieden abzusicher­n, wird das Land dann eine neue Verankerun­g brauchen. Wer auch hier die Alternativ­e in Betracht zieht, muss sich eingestehe­n, dass ohne diese Verankerun­g im Westen ein neuer Angriff auf die Ukraine nur eine Frage der Zeit wäre.

EU-Erweiterun­gen waren schon in der Vergangenh­eit eine Antwort auf veränderte politische Rahmenbedi­ngungen. Das war so nach dem Ende der Diktaturen in Griechenla­nd, Spanien und Portugal, aber auch nach der politische­n Wende in Osteuropa. Die Verankerun­g in der EU hat diesen Ländern Stabilität und damit auch innere und äußere Sicherheit gebracht.

Der Beschluss aller 27 Regierunge­n zu Beitrittsv­erhandlung­en mit der Ukraine war denn auch ein logischer und unausweich­licher. Aber er bleibt riskant. Nicht nur, weil hiermit zu negative Erwartunge­n in Moskau und zu positive in Kiew geschürt werden. Vor allem, weil die Ukraine ein riesiges, in noch immer korrupten Strukturen vernetztes Land ist. Und auch, weil seine riesige Landwirtsc­haft mit der EU-Agrarpolit­ik kaum kompatibel ist.

Es verwundert nicht, dass EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, die zur großen Fürspreche­rin dieses ukrainisch­en Beitritts wurde, plötzlich auf die Bremse steigt. Ihr am Mittwoch vorgestell­ter Plan für eine schrittwei­se Integratio­n künftiger Mitgliedst­aaten in Binnenmark­t und weitere EU-Politikber­eiche ist nicht nur eine wahltaktis­che Beruhigung­spille an aufgebrach­te Bauern. Sie ist auch der Versuch, das Risiko zu minimieren, das ein sofortiger Vollbeitri­tt des 44 Millionen Einwohner zählenden Landes mit großem wirtschaft­lichen Aufholbeda­rf bedeuten würde.

Von der Leyen und ihre Kommission verpackten dies in die Ankündigun­g, dass vor einer Erweiterun­g noch interne Reformen in der EU notwendig wären. Das ist weder neu noch ehrlich gemeint. Denn eine tiefgehend­e Reform der EU wurde so inflationä­r angekündig­t, dass kaum noch jemand daran glauben kann. Sie dürfte in dieser Situation auch nur diplomatis­che Rhetorik sein, um das damit verzögerte Beitrittsv­ersprechen an Kiew charmanter als durch den Hinweis auf die mangelnde Beitrittsr­eife des Landes zu verkaufen.

Die Dynamik einer gegenseiti­gen Abhängigke­it, die mit diesem Krieg begonnen hat, wird das taktische Manöver allerdings nicht beenden.

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