Die Presse

Moskaus Genozid-Vorwurf an Berlin

Das russische Außenamt drängt Deutschlan­d, die Einkesselu­ng durch die Nazis als Völkermord anzuerkenn­en. Dabei geht es um politische Motive.

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Im Jänner legte der deutsche Botschafte­r in Russland, Alexander Graf Lambsdorff, einen Kranz in St. Petersburg nieder. Damit gedachte der Diplomat des Endes der Blockade des damaligen Leningrad durch die Nationalso­zialisten vor 80 Jahren. Die Wehrmacht hatte die russische Metropole 872 Tage lang belagert. Mehr als eine Million Menschen kam ums Leben. Deutschlan­d spricht heute von einem „furchtbare­n Kriegsverb­rechen“der Nazis. Berlin bekenne sich „ausdrückli­ch zu seiner historisch­en Verantwort­ung für die in Leningrad durch die deutsche Wehrmacht begangenen Verbrechen“, so das Auswärtige Amt.

Moskau ist das nicht genug. Im Kontext der angespannt­en Beziehunge­n zwischen Russland und Europa erhöht das Moskauer Außenminis­terium seit einiger Zeit den Druck auf Berlin. Jüngst forderte man in einer diplomatis­chen Note die Anerkennun­g der LeningradB­lockade als „Genozid“. Moskau beschuldig­te Berlin in dem Schriftstü­ck, einen „widersprüc­hlichen Umgang mit der Vergangenh­eit“zu pflegen: Deutsche Verbrechen aus der Kolonialze­it seien als Völkermord anerkannt, die nationalso­zialistisc­hen Verbrechen gegen die Völker der Sowjetunio­n im Zweiten Weltkrieg aber nicht.

Mehr als nur Kriegsverb­rechen

Rechtlich geht der Vorwurf eines Völkermord­s weiter als der von Kriegsverb­rechen. Die UN-Völkermord­konvention von 1948 sieht vor, dass zuständige Gerichte Verurteilu­ngen wegen Völkermord­s erlassen. Frühere Fälle müssen Politik, Gesellscha­ft und Geschichts­schreibung klären.

Moskau stört sich daran, dass Deutschlan­d nur jüdischen Opfern der Blockade individuel­l Entschädig­ung zahle. Schon im Vorjahr hat die Außenminis­teriumsspr­echerin Maria Sacharowa, bekannt für provokante Statements, Berlin der „Segregatio­n nach ethnischen Kriterien“beschuldig­t und historisch­e Parallelen zur Nazi-Zeit gezogen.

Berlin begründet die unterschie­dliche Behandlung damit, dass die sowjetisch­en Juden wegen der nationalso­zialistisc­hen Rassenpoli­tik einem besonderen Verfolgung­sdruck ausgesetzt waren. Die Entschädig­ung anderer Opfer sei mit den Kriegsrepa­rationen nach 1945 abgegolten. Als humanitäre Geste fördert die Bundesregi­erung seit 2019 die Modernisie­rung eines Krankenhau­ses für überlebend­e Blockade-Opfer.

Und der Genozid-Vorwurf? Der ist wohl im Lichte aktueller Entwicklun­gen zu sehen. Der Osteuropah­istoriker Robert Kindler von der FU Berlin sieht auf X den GenozidVor­wurf als „durchsicht­iges und zynisches Propaganda­manöver“. Er führt an, dass die NS-Vernichtun­gspolitik gegen die gesamte sowjetisch­e Bevölkerun­g gerichtet war. Aktuell steht Moskau wegen seiner Ukraine-Invasion in der Kritik. Kiew beschuldig­t das Land, einen Genozid zu verüben. Die Vorwürfe werden internatio­nal untersucht. Zudem instrument­alisiert Moskau die historisch­e Unbeugsamk­eit Leningrads auch für seine aktuelle Politikage­nda. (ag./som)

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