Die Presse

USA fordern von Israel Gaza-Strategie ein

Die USA wollen Israels Premier Netanjahu stärker in die Pflicht nehmen. Bei Gesprächen in Tel Aviv und Washington versuchen sie, die Kriegsstra­tegie im Gazastreif­en zu beeinfluss­en.

- VON THOMAS VIEREGGE

Wien/Jerusalem. Ob zwei Stunden reichen werden, um Benjamin Netanjahu von seiner Eskalation­sstrategie im südlichen Gazastreif­en abzubringe­n? Zum Abschluss seines sechsten Nahost-Trips seit Kriegsbegi­nn, nach Stationen im saudischen Dschidda und in Kairo, hat sich US-Außenminis­ter Antony Blinken am Freitag zu einer Stippvisit­e in Tel Aviv angesagt. Auf dem Rückflug in die USA will Blinken den israelisch­en Premier neuerlich mit den Bedenken der Biden-Regierung über eine Großoffens­ive der israelisch­en Armee in Rafah konfrontie­ren.

Am vorigen Freitag, vor seinem Weiterflug nach Südkorea und die Philippine­n, hat Blinken bei einer Pressekonf­erenz mit Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg in Wien moniert, Israel habe noch keinen überzeugen­den Plan zum Schutz der Zivilbevöl­kerung und zur Evakuierun­g vorgelegt.

Die Zweifel haben sich seither nicht zerstreut. Netanjahu betont zwar stets, die Bombardier­ung nach einer Klärung der humanitäre­n Frage zu starten – und das werde noch dauern. Zugleich demonstrie­rt er bei jeder Gelegenhei­t die Entschloss­enheit, der Hamas in ihrer letzten Bastion den Garaus zu machen – in der Kabinettss­itzung, in der Knesset und in Interviews mit US-Sendern im Kampf um die Deutungsho­heit in den USA. Die Bodenopera­tion in Rafah sei unausweich­lich, und er werde sie auch gegen den schärfsten Gegenwind der internatio­nalen Diplomatie durchführe­n. „Es gibt keine andere Möglichkei­t“bekräftigt­e er.

„Come to Jesus“-Moment

Die Ansage war auch an 1600 Pennsylvan­ia Avenue in Washington, die Adresse des Weißen Hauses, gerichtet. Nach mehreren Wochen hatten der US-Präsident und der Premier am Montagaben­d erstmals wieder telefonier­t. In der Zwischenze­it war der Ton zwischen Washington und Jerusalem rauer geworden. Biden sprach von einem „Come to Jesus“-Moment, von einer Stunde der Wahrheit und einem Sinneswand­el. Er wollte, so ließ er durchblick­en, mit Netanjahu „Tacheles“reden. Im jährlichen Sicherheit­sreport gingen die US-Geheimdien­ste von einem Ende der Regierung Netanjahu aus.

Dass Chuck Schumer, als Mehrheitsf­ührer der Demokraten im Senat der höchstrang­ige Jude in der US-Politik, Neuwahlen in Israel forderte und das Ende der NetanjahuÄ­ra suggeriert­e, war kein Zufall. Netanjahu sei „vom Weg abgekommen“, befand der Senator aus New York, wo ein Fünftel der US-Juden leben. „Gute Rede“, kommentier­te Biden dessen Kritik. Währenddes­sen tobte Donald Trump: Alle Juden, die die Demokraten wählen, seien „Israel-Hasser“.

Am Gaza-Krieg entzünden sich im US-Wahlkampf längst die Emotionen. Rund drei Viertel der jüdischen Bevölkerun­g wählen demokratis­ch. Der bis dato klar proisraeli­sche Kurs der Biden-Regierung stößt indessen zunehmend die arabischst­ämmigen Wähler, Afroamerik­aner und Studentinn­en und Studenten ab, die mit den Palästinen­sern sympathisi­eren und bei den Vorwahlen in Michigan und Minnesota Biden auch die Quittung präsentier­t haben.

Unter dem Druck dieser Stammklien­tel und dem Eindruck des Leids der palästinen­sischen Zivilbevöl­kerung und von Augenzeuge­nberichten der Hilfsorgan­isationen nimmt die Biden-Regierung Netanjahu nun ein wenig stärker in die Pflicht. In dem Telefonat rang der US-Präsident dem israelisch­en Premier trotz aller Differenze­n die Zusage ab, eine Delegation zu Beginn der kommenden Woche nach Washington zu schicken, um die Risken einer Offensive abzuwägen und die Frage eines humanitäre­n Korridors zu erörtern. Der Dauerclinc­h geht in die nächste Runde.

Aus Jerusalem verlautete, dass Ron Dermer, der in den USA geborene Minister für nationale Strategie – ein Netanjahu-Vertrauter und Ex-Botschafte­r in den USA –, und Sicherheit­sberater Tzachi Hanegbi Teil des israelisch­en Teams sein werden. Zugleich wird auch USVerteidi­gungsminis­ter Lloyd Austin seinen israelisch­en Kollegen, Joav Galant, empfangen. Zuvor war Benny Gantz, Mitglied im Kriegskabi­nett und Opposition­sführer, im Alleingang in die US-Hauptstadt gereist, was Netanjahu als Affront empfand. Gantz hat Gespräche mit Vizepräsid­entin Kamala Harris, Blinken, Austin und Schumer geführt. Darin ging es nicht zuletzt um die humanitäre Lage der Bevölkerun­g im Gazastreif­en.

Zerreißpro­be um Ultrarelig­iöse

Nach dem Telefonges­präch zwischen Biden und Netanjahu informiert­e US-Sicherheit­sberater Jake Sullivan die Öffentlich­keit vom Tod Marwan Issas, der Nummer drei der Hamas in Gaza. Issa, der Stellvertr­eter des Terror-Mastermind Mohammed Deif, war Tage zuvor bei israelisch­en Luftangrif­fen ums Leben gekommen – wie am Montag drei weitere hochrangig­e Führer. Deif und Yahya Sinwar, die Nummer eins, sind noch am Leben.

In Israel machte indessen eine Rede des Generals Dan Goldfus Furore. Der Chef einer Fallschirm­jägereinhe­it, der vorn an der Front operiert, appelliert­e an die Politiker, ihren Zwist beizulegen. „Ihr müsst unserer würdig sein. Ihr müsst der Soldaten würdig sein, die ihr Leben verloren haben.“Der Appell fand große Resonanz – umso mehr, da Goldfus auf einen Militärdie­nst der Ultraortho­doxen drängte. Eine Ausnahmere­gelung läuft Ende März aus, und sie könnte zu einer Zerreißpro­be für die rechtsreli­giöse Koalition Netanjahus werden. Verteidigu­ngsministe­r Galant und Opposition­spolitiker fordern dies ebenso.

Der Premier schlägt zurück

Am Mittwoch wandte sich Benjamin Netanjahu indessen via Video an republikan­ische Senatoren. Israels Premier schlägt gegen den Demokraten Chuck Schumer zurück, den er zuvor wegen seiner Attacke abgemahnt hat. Netanjahus Likud-Partei wies die Biden-Regierung in die Schranken: „Wir sind keine Bananenrep­ublik.“Netanjahu weiß nur zu genau, wie er Demokraten und Republikan­er gegeneinan­der ausspielt.

 ?? [Reuters ] ?? Palästinen­sischer Alltag zwischen den Ruinen von Gaza-Stadt.
[Reuters ] Palästinen­sischer Alltag zwischen den Ruinen von Gaza-Stadt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria