USA fordern von Israel Gaza-Strategie ein
Die USA wollen Israels Premier Netanjahu stärker in die Pflicht nehmen. Bei Gesprächen in Tel Aviv und Washington versuchen sie, die Kriegsstrategie im Gazastreifen zu beeinflussen.
Wien/Jerusalem. Ob zwei Stunden reichen werden, um Benjamin Netanjahu von seiner Eskalationsstrategie im südlichen Gazastreifen abzubringen? Zum Abschluss seines sechsten Nahost-Trips seit Kriegsbeginn, nach Stationen im saudischen Dschidda und in Kairo, hat sich US-Außenminister Antony Blinken am Freitag zu einer Stippvisite in Tel Aviv angesagt. Auf dem Rückflug in die USA will Blinken den israelischen Premier neuerlich mit den Bedenken der Biden-Regierung über eine Großoffensive der israelischen Armee in Rafah konfrontieren.
Am vorigen Freitag, vor seinem Weiterflug nach Südkorea und die Philippinen, hat Blinken bei einer Pressekonferenz mit Außenminister Alexander Schallenberg in Wien moniert, Israel habe noch keinen überzeugenden Plan zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Evakuierung vorgelegt.
Die Zweifel haben sich seither nicht zerstreut. Netanjahu betont zwar stets, die Bombardierung nach einer Klärung der humanitären Frage zu starten – und das werde noch dauern. Zugleich demonstriert er bei jeder Gelegenheit die Entschlossenheit, der Hamas in ihrer letzten Bastion den Garaus zu machen – in der Kabinettssitzung, in der Knesset und in Interviews mit US-Sendern im Kampf um die Deutungshoheit in den USA. Die Bodenoperation in Rafah sei unausweichlich, und er werde sie auch gegen den schärfsten Gegenwind der internationalen Diplomatie durchführen. „Es gibt keine andere Möglichkeit“bekräftigte er.
„Come to Jesus“-Moment
Die Ansage war auch an 1600 Pennsylvania Avenue in Washington, die Adresse des Weißen Hauses, gerichtet. Nach mehreren Wochen hatten der US-Präsident und der Premier am Montagabend erstmals wieder telefoniert. In der Zwischenzeit war der Ton zwischen Washington und Jerusalem rauer geworden. Biden sprach von einem „Come to Jesus“-Moment, von einer Stunde der Wahrheit und einem Sinneswandel. Er wollte, so ließ er durchblicken, mit Netanjahu „Tacheles“reden. Im jährlichen Sicherheitsreport gingen die US-Geheimdienste von einem Ende der Regierung Netanjahu aus.
Dass Chuck Schumer, als Mehrheitsführer der Demokraten im Senat der höchstrangige Jude in der US-Politik, Neuwahlen in Israel forderte und das Ende der NetanjahuÄra suggerierte, war kein Zufall. Netanjahu sei „vom Weg abgekommen“, befand der Senator aus New York, wo ein Fünftel der US-Juden leben. „Gute Rede“, kommentierte Biden dessen Kritik. Währenddessen tobte Donald Trump: Alle Juden, die die Demokraten wählen, seien „Israel-Hasser“.
Am Gaza-Krieg entzünden sich im US-Wahlkampf längst die Emotionen. Rund drei Viertel der jüdischen Bevölkerung wählen demokratisch. Der bis dato klar proisraelische Kurs der Biden-Regierung stößt indessen zunehmend die arabischstämmigen Wähler, Afroamerikaner und Studentinnen und Studenten ab, die mit den Palästinensern sympathisieren und bei den Vorwahlen in Michigan und Minnesota Biden auch die Quittung präsentiert haben.
Unter dem Druck dieser Stammklientel und dem Eindruck des Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung und von Augenzeugenberichten der Hilfsorganisationen nimmt die Biden-Regierung Netanjahu nun ein wenig stärker in die Pflicht. In dem Telefonat rang der US-Präsident dem israelischen Premier trotz aller Differenzen die Zusage ab, eine Delegation zu Beginn der kommenden Woche nach Washington zu schicken, um die Risken einer Offensive abzuwägen und die Frage eines humanitären Korridors zu erörtern. Der Dauerclinch geht in die nächste Runde.
Aus Jerusalem verlautete, dass Ron Dermer, der in den USA geborene Minister für nationale Strategie – ein Netanjahu-Vertrauter und Ex-Botschafter in den USA –, und Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi Teil des israelischen Teams sein werden. Zugleich wird auch USVerteidigungsminister Lloyd Austin seinen israelischen Kollegen, Joav Galant, empfangen. Zuvor war Benny Gantz, Mitglied im Kriegskabinett und Oppositionsführer, im Alleingang in die US-Hauptstadt gereist, was Netanjahu als Affront empfand. Gantz hat Gespräche mit Vizepräsidentin Kamala Harris, Blinken, Austin und Schumer geführt. Darin ging es nicht zuletzt um die humanitäre Lage der Bevölkerung im Gazastreifen.
Zerreißprobe um Ultrareligiöse
Nach dem Telefongespräch zwischen Biden und Netanjahu informierte US-Sicherheitsberater Jake Sullivan die Öffentlichkeit vom Tod Marwan Issas, der Nummer drei der Hamas in Gaza. Issa, der Stellvertreter des Terror-Mastermind Mohammed Deif, war Tage zuvor bei israelischen Luftangriffen ums Leben gekommen – wie am Montag drei weitere hochrangige Führer. Deif und Yahya Sinwar, die Nummer eins, sind noch am Leben.
In Israel machte indessen eine Rede des Generals Dan Goldfus Furore. Der Chef einer Fallschirmjägereinheit, der vorn an der Front operiert, appellierte an die Politiker, ihren Zwist beizulegen. „Ihr müsst unserer würdig sein. Ihr müsst der Soldaten würdig sein, die ihr Leben verloren haben.“Der Appell fand große Resonanz – umso mehr, da Goldfus auf einen Militärdienst der Ultraorthodoxen drängte. Eine Ausnahmeregelung läuft Ende März aus, und sie könnte zu einer Zerreißprobe für die rechtsreligiöse Koalition Netanjahus werden. Verteidigungsminister Galant und Oppositionspolitiker fordern dies ebenso.
Der Premier schlägt zurück
Am Mittwoch wandte sich Benjamin Netanjahu indessen via Video an republikanische Senatoren. Israels Premier schlägt gegen den Demokraten Chuck Schumer zurück, den er zuvor wegen seiner Attacke abgemahnt hat. Netanjahus Likud-Partei wies die Biden-Regierung in die Schranken: „Wir sind keine Bananenrepublik.“Netanjahu weiß nur zu genau, wie er Demokraten und Republikaner gegeneinander ausspielt.