Banden terrorisieren Norden Nigerias mit Massenentführungen
Seit Wochen stürmten bewaffnete Gruppen zahlreiche Ortschaften. Hunderte Menschen haben sie bereits verschleppt.
Wien/Abuja. Sie griffen völlig überraschend an. Eine Gruppe Bewaffneter stürmte am Wochenende gleich mehrere Dörfer in der Provinz Kajuru im nigerianischen Bundesstaat Kaduna. Aus einem Dorf entführten sie 14 Frauen, aus einem anderen 87 Personen, in beiden Fällen mit sehr viel Gewalt. Die Bewaffneten haben willkürlich durch die Gegend geschossen, schildern Augenzeugen, und sie raubten alle verfügbaren Geschäfte aus. Nur wenige Tage zuvor fielen Terroristen in die Siedlung der Buda-Gemeinschaft ein und entführten rund 60 Einwohner.
„Sie haben uns vorn aufgereiht und sind hinter uns gegangen“, erzählt der 19-jährige Idris Umar der nigerianischen Plattform Humangle, „aber als sie zu schießen begonnen haben, bin ich losgerannt.“Umar konnte entkommen, doch viele seiner Verwandten, ebenfalls aus der Buda-Siedlung, nicht. Nur der relativ raschen Intervention von Soldaten sei es zu verdanken, dass nicht mehr passiert ist, heißt es in lokalen Medien. Es sei ein Glück, dass überhaupt Soldaten in der Nähe waren. „Es gibt hier einfach keine Sicherheitskräfte“, sagte Usman Dallami Stingo, Abgeordneter im Parlament des Bundesstaats Kaduna. Seit 2019 seien die Menschen in Kaduna permanent von Attacken und Entführungen bedroht, „und es nimmt kein Ende“.
Banditen fordern Lösegeld
Tatsächlich nehmen die Entführungen im Norden Nigerias seit geraumer Zeit wieder zu. Anfang März haben Bewaffnete nicht weniger als 287 Schulkinder und Frauen aus der entlegenen Ortschaft Kuriga, ebenfalls im Bundesstaat Kaduna, entführt. „Wir wissen nicht, was wir tun sollen, aber wir glauben an Gott“, sagte die sichtlich unter Schock stehende Rashidat Hamza der Nachrichtenagentur AP. Fünf von ihren sechs Kindern im Alter von sieben bis 18 Jahren haben die Terroristen aus Kuriga verschleppt.
In Gruppen stürmten sie die LEA-Schule, just als der Unterricht begann. Sie blockierten die Ausgänge und mit ihren Fahrzeugen die Wege zur Schule, auch schossen sie in die Luft. Manche Dorfbewohner haben bereits die Hoffnung aufgegeben, dass sie ihre Kinder jemals wiedersehen werden.
Die Bewaffneten wollen jedenfalls Geld: CNN zufolge sind es umgerechnet 620.000 US-Dollar, die in den nächsten Tagen übergeben werden sollen – andernfalls drohen die Terroristen damit, die Frauen und Kinder zu erschießen. Uba Sani, der Gouverneur von Kaduna, versicherte zwar gegenüber Medien, dass alles getan werde, um die Entführten sicher wieder zurückzuholen – die Regierung hat eine große Suchaktion in die Wege geleitet. Aber sie hat auch betont, dass kein Lösegeld fließen werde. Es ist für die Regierung auch ein Problem, dass die Banditen die Kinder in unwegsames, bewaldetes Gebiet verschleppt haben. Bisher wurde die Öffentlichkeit nicht informiert, wie weit die Suchaktion schon gediehen ist.
Die Entführung aus Kuriga war bereits die dritte gewaltsame Verschleppung seit Anfang März. Im Bundesstaat Sokoto haben Terroristen mitten in der Nacht 15 Schüler im Alter von acht bis 14 Jahren aus einem Internat entführt. Im Bundesstaat Borno wurden rund 200 Personen, ebenfalls hauptsächlich Frauen und Kinder, verschleppt. Die Bewohner eines Flüchtlingscamps hatten die Unterkunft verlassen, um Feuerholz zu suchen, als die Terroristen zuschlugen. Einige wenige wurden inzwischen wieder freigelassen, doch die allermeisten bleiben in der Gewalt von Boko Haram.
Denn in diesem Fall hat sich die islamistische Terrororganisation zu den Entführungen bekannt, in den anderen Fällen bleibt die Identität der (lokalen) Verbrechergruppen oft im Dunkeln. Manche der Terrororganisationen wollen sich mit den Entführungen offenbar an der Regierung und gleichzeitig an der Armee rächen, wenn diese Terroristen verhaften oder töten.
Von Mädchen fehlt jede Spur
Die Massenentführungen sind seit zehn Jahren in Nigeria verbreitet: 2014 hatte Boko Haram 276 Schulmädchen aus Chibok (Bundesstaat Borno) entführt und international für Entsetzen gesorgt. Ein Teil von ihnen wurde zwar wieder freigelassen, doch von mehr als 100 Mädchen fehlt nach wie vor jede Spur. Die NGO Human Rights Watch ruft die nigerianischen Behörden auf, die Sicherheitsvorkehrungen zu erhöhen, vor allem in Schulen. Denn viele Dörfer wie Kuriga wurden mehr als einmal von den Terroristen heimgesucht. Seit 2015 werde ihre Gemeinde immer wieder von bewaffneten Gruppen angegriffen, sagte Khalifa Aminu aus Kuriga der Plattform Humangle. Daher habe er das Dorf gemeinsam mit seiner Familie schon längst verlassen.