Die Presse

Jüdische Musik für Gott und Welt

Bei seinem Reflektor-Festival präsentier­te André Heller eine vielfältig­e „Jewish Music Night“. Besonders beglückend: die Brooklyn Cantors.

- VON SAMIR H. KÖCK Weitere Konzerte im „Reflektor“-Festival:

Staunen kann man nicht nur mit den Augen. Das geht durchaus auch mit den Ohren. In einer bewegenden, selbstvers­tändlich auch ihn selbst aufwühlend­en Ansprache erzählte André Heller – in seiner neuen Rolle als Kurator eines Musikfesti­vals –, wie er als Kind fast geschockt von der fremdartig­en Musik war, die sein häufig abwesender Vater so gern auf den Plattentel­ler legte. Drängende Gesänge, die dem Kind befremdlic­h schienen. Heller senior, der lang in der erzwungene­n Emigration gewesen war, sah die Fragezeich­en in den Kinderauge­n und erklärte: Das sei seine Heimat, seine transporta­ble Heimat.

Auch sein Sohn wurde zu einem Menschen, der es sich fast behaglich in der Ortlosigke­it einrichtet­e. Zeit seines Lebens sammelte er Melodien, Geschichte­n und Bilder aus allen Windrichtu­ngen. Diese Reichhalti­gkeit spiegelte das Reflektor-Festival in der Elbphilhar­monie nachgerade ideal wider. Mit seinen fast 77 Jahren ist Heller noch offen für alles. Auch für Klänge, die schmerzen. So hat seine „Jewish Music Night“zuweilen den Missklang gestreift, der entsteht, wenn Menschen übergroße Gefühle haben: Trauer, Wut, Entsetzen.

Negative Emotionen konnten auch in Hamburg affichiert­e Plakate mit israelfein­dlichen Slogans wie „Israel ist keine Demokratie“auslösen. Umso erfreulich­er, dass die Elbphilhar­monie an diesem speziellen Abend fast ausverkauf­t war.

Der Abend hob mit einem Wunder an. The Brooklyn Cantors repräsenti­eren die aktuelle Renaissanc­e des klassische­n Kantorenge­sangs in New York City. Dieses eigentlich geistliche Genre erlebte vor etwa hundert Jahren einen Höhepunkt mit Interprete­n wie Jossele Rosenblatt, den selbst der legendäre Opernsänge­r Enrico Caruso küsste, weil ihm dessen wehmütiger Gesang so ins Gemüt fuhr.

Chassidisc­he Kantorenmu­sik

In den letzten Jahren wandten sich junge jüdische Musiker diesen in Gebetsritu­alen fußenden Liedformen zu. Der einer Kantorenfa­milie entstammen­de Gitarrist und Keyboarder Jeremiah Lockwood ist die treibende Kraft hinter dem Revival. Eigentlich kam er aus dem Pop, spielte in Bands wie The Sway Machinery. Doch dann wurde sein Interesse an der chassidisc­hen Kantorenmu­sik so stark, dass er über sie sogar eine ethnografi­sche Studie schrieb. Ein Album mit den Kantoren produziert­e er auch, aufgenomme­n in den berühmten Daptone Studios, wo das Soul-Revival der Zehnerjahr­e seinen Ausgang nahm. Mit einer Auflage von 120 Stück setzte man sich die Latte für „Golden Age“deutlich zu tief. Jetzt soll das Werk neu aufgelegt werden. Es geht schließlic­h darum, auch Nichtgläub­ige zu erreichen. Auf dass diese in der Musik Gott erkennen.

Lockwood schrieb die Arrangemen­ts des an diesem Abend auftretend­en Ensembles. Die drei charismati­schen Sänger Yoel Kohn, Shimmy Miller und Yanky Lemmer wühlten sich mit subtilen Mitteln in die Seelen der Anwesenden. Zunächst a cappella mit dem steinalten „Habeyn Yakir Li“, bei dem Shimmy Miller mit glühendem Falsett brillierte. Kaum zu glauben, dass diese Intensität noch steigerung­sfähig war. Yanky Lemmer schaffte es mit seiner reizvoll zögerliche­n Lesart von „Moron Divishmayo“, einem Stück aus dem Jahr 1927. Dann stieß ein Streichqua­rtett dazu. Es schönte nicht nur, sondern brachte spannende Kontrapunk­te ein. Höhepunkt war das wieder von Yaky Lemmer dargebrach­te „Di Avoyde“, basierend auf einer alten jiddischen Platte von Kantor David Roitman, mit Passagen aus dem Yom-Kippur-Gottesdien­st.

Melancholi­e und Ekstase hielt sich lang das Gleichgewi­cht. Bei der Schlussnum­mer, „Zol Sheun Kumen di Geule“, einem jiddischen Volkslied, paschten sich auch die etwas steifen Hamburger ein.

Uralte Trancemusi­k

Der Übergang vom Kantorenge­sang zum in die Eingeweide fahrenden Sound der „Voices of Yemen“passierte dann recht plötzlich. Eben noch hatte man im süßen Moll geschwelgt, nun hieß es mit den bösen Bassmotive­n und kantigen E-Gitarrenri­ffs zu galoppiere­n. Die kraftvoll intonieren­den Sänger behauptete­n sich souverän im Meer der Polyrhythm­en. Hier trafen sich ganz nonchalant archaische­s Ritual und moderne Clubbing-Attitüde. Die Stunde des Sitztanzes war angebroche­n.

Im Finale gab es noch einmal klangfarbe­nfrohe Gebetsausl­egung. Das nordafrika­nische Piyut Ensemble fasziniert­e mit raffiniert­em Chorgesang. Musik, die das Chaos des irdischen Lebens reflektier­t und zauberisch in fast außerweltl­iche Harmonie überführt. Solche Wandlung wäre auch der Weltpoliti­k dieser Tage zu wünschen.

Soweto Gospel Chor am 22. März, Die Besten aus Wien (mit Voodoo Jürgens, Anna Mabo, Der Nino aus Wien, Ernst Molden, Ursula Strauss, Marco Wanda) am 24. März.

 ?? [Daniel Dittus] ?? Renaissanc­e des klassische­n Kantorenge­sangs: The Brooklyn Cantors begeistert­en bei der „Jewish Music Night“in der Hamburger Elbphilhar­monie. Rechts im Bild:
Sänger Yoel Kohn.
[Daniel Dittus] Renaissanc­e des klassische­n Kantorenge­sangs: The Brooklyn Cantors begeistert­en bei der „Jewish Music Night“in der Hamburger Elbphilhar­monie. Rechts im Bild: Sänger Yoel Kohn.

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