„Wir würden die Ukraine fallen lassen, bevor wir mit Truppen reingehen“
Ein neues Buch zeichnet das Verhältnis von Kanzler Scholz zu Krieg, Russland und Putin nach.
Es war ein Rätselraten, zu dem sich deutsche Politjournalisten einfanden. Wieder einmal geht es um jenen Mann, der das Land regiert: Olaf Scholz, 65, Sozialdemokrat, Kanzler. Wo nimmt der seine Überzeugung her, immer recht zu haben? Warum kommuniziert er so schlecht? Und vor allem, was denkt er wirklich über den Krieg und Wladimir Putin? Wie groß ist die Angst?
Alle diese Fragen wurden im Musiksaal der Ullstein Buchverlage in Berlin gestellt. Der „Süddeutsche“-Journalist Daniel Brössler hat mit dem Kanzler mehrere Gespräche geführt und ein Buch geschrieben. Es handelt von Scholz und dem Krieg, der über seiner Kanzlerschaft liegt. „Mein Urteil ist, er hat tatsächlich für die Ukraine viel mehr getan, als ich es vor dem Überfall von einem sozialdemokratischen Kanzler erwartet hätte“, sagte Brössler bei der Buchvorstellung. „In die Zukunft gerichtet ist die Frage: Hat’s gereicht?“Neben ihm auf der Bühne saß Anton Hofreiter, grüner Bundestagsabgeordneter und einer der schärfsten Kritiker Scholz’, wenn es um dessen Verzögerung von Waffenlieferungen geht. „Deutschland hat einen Riesenweg zurückgelegt“, sagte er. Hinter die Frage, ob es reiche, würde er aber ein „sehr, sehr großes Fragezeichen“machen. Scholz müsse nicht nur die deutsche Gesellschaft transformieren, sondern seine Partei, die SPD.
Vorwurf: „Appeasement-Politik“
Deren linker Flügel zeigte in den vergangenen Tagen wieder den Willen, zum Selbstverständnis als Friedenspartei zurückzufinden, aus Scholz einen Friedenskanzler zu machen. In Worte fasste diese Stimmung der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, der nachdenken will, wie man den Krieg in der Ukraine „einfrieren“könne. Die alte Russlandpolitik der SPD „bricht sich wieder Bahn“, sagte der Grüne Hofreiter. FDP-Verteidigungssprecherin Marie-Agnes Strack-Zimmermann bezeichnete Mützenichs Vorschlag als „Appeasement-Politik“.
Brösslers Buch kommt zur richtigen Zeit, denn es beleuchtet auch, wie Scholz in einer Partei zu verorten ist, in der Generationen mit Ostpolitik, Friedensbewegung und einer von Putin zertrümmerten Russlandpolitik sozialisiert wurden. Selbst der Ex-SPD-Kanzler und spätere „Zeit“-Herausgeber, Helmut Schmidt, zweifelte öffentlich, ob die Ukraine eine eigene Nation sei. In einem Gespräch der beiden im Jahr 2015 – Scholz war damals Hamburger Bürgermeister – widersprach der spätere Kanzler der SPD-Parteilegende Schmidt. „Er ist kein Vertreter der Russlandfraktion“, sagte Brössler in Berlin über Scholz. „Er hat eine richtige Aversion gegen Putin.“
Scholz politisierte sich im linken Flügel, er besuchte die Sandinisten in Nicaragua, reiste als Juso zu Treffen in die DDR. Der österreichische Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer hat einen Kurzauftritt im Buch, um Scholz aus Jugendtagen zu charakterisieren. Er habe ihn eigen gefunden. Ein Deutscher, der über seine eigenen Witze kichert. Gusenbauer will Scholz’ Argumentationstalent erkannt haben, seine Neigung sich bei „den Gescheiten“zu sehen. Einen „arrogant touch“, nennt Brössler Scholz’ Eigenart.
Es ist ein detaillierter und chronologischer Blick auf den deutschen Kanzler geworden, der laut Brössler so weit reichende Entscheidungen traf, wie in der Nachkriegsgeschichte nur Helmut Kohl, der Kanzler der Wiedervereinigung. Darunter die unter Druck geschriebene Rede zur Zeitenwende, in der Scholz kurz darauf einen Makel erkannt haben will: Er ging darin nicht auf die Ängste der Bevölkerung ein. Die besonders in Deutschland ausgeprägte Furcht vor einem Atomkrieg, die Scholz in Juso-Jahren hautnah miterlebte, als er selbst gegen die Stationierung von Nato-Raketen in Deutschland demonstrierte.
Scholz sehe die Gefahr einer Niederlage der Ukraine für Europa – aber auch die eines Dritten Weltkrieges. „Wir würden die Ukraine fallen lassen, bevor wir mit eigenen Truppen reingehen“, sagte Scholz-Kenner Brössler. „Die Option Niederlage wird einkalkuliert.“Ein innenpolitisches Kalkül des Sozialdemokraten vermutet er dabei aber nicht. Zwar werde Scholz im Wahlkampf nützen, was er sicherheitspolitisch tut. Getan hätte er es aber auch so.