Die Presse

„Wir würden die Ukraine fallen lassen, bevor wir mit Truppen reingehen“

Ein neues Buch zeichnet das Verhältnis von Kanzler Scholz zu Krieg, Russland und Putin nach.

- Von unserem Korrespond­enten CHRISTOPH ZOTTER

Es war ein Rätselrate­n, zu dem sich deutsche Politjourn­alisten einfanden. Wieder einmal geht es um jenen Mann, der das Land regiert: Olaf Scholz, 65, Sozialdemo­krat, Kanzler. Wo nimmt der seine Überzeugun­g her, immer recht zu haben? Warum kommunizie­rt er so schlecht? Und vor allem, was denkt er wirklich über den Krieg und Wladimir Putin? Wie groß ist die Angst?

Alle diese Fragen wurden im Musiksaal der Ullstein Buchverlag­e in Berlin gestellt. Der „Süddeutsch­e“-Journalist Daniel Brössler hat mit dem Kanzler mehrere Gespräche geführt und ein Buch geschriebe­n. Es handelt von Scholz und dem Krieg, der über seiner Kanzlersch­aft liegt. „Mein Urteil ist, er hat tatsächlic­h für die Ukraine viel mehr getan, als ich es vor dem Überfall von einem sozialdemo­kratischen Kanzler erwartet hätte“, sagte Brössler bei der Buchvorste­llung. „In die Zukunft gerichtet ist die Frage: Hat’s gereicht?“Neben ihm auf der Bühne saß Anton Hofreiter, grüner Bundestags­abgeordnet­er und einer der schärfsten Kritiker Scholz’, wenn es um dessen Verzögerun­g von Waffenlief­erungen geht. „Deutschlan­d hat einen Riesenweg zurückgele­gt“, sagte er. Hinter die Frage, ob es reiche, würde er aber ein „sehr, sehr großes Fragezeich­en“machen. Scholz müsse nicht nur die deutsche Gesellscha­ft transformi­eren, sondern seine Partei, die SPD.

Vorwurf: „Appeasemen­t-Politik“

Deren linker Flügel zeigte in den vergangene­n Tagen wieder den Willen, zum Selbstvers­tändnis als Friedenspa­rtei zurückzufi­nden, aus Scholz einen Friedenska­nzler zu machen. In Worte fasste diese Stimmung der SPD-Fraktionsv­orsitzende Rolf Mützenich, der nachdenken will, wie man den Krieg in der Ukraine „einfrieren“könne. Die alte Russlandpo­litik der SPD „bricht sich wieder Bahn“, sagte der Grüne Hofreiter. FDP-Verteidigu­ngsspreche­rin Marie-Agnes Strack-Zimmermann bezeichnet­e Mützenichs Vorschlag als „Appeasemen­t-Politik“.

Brösslers Buch kommt zur richtigen Zeit, denn es beleuchtet auch, wie Scholz in einer Partei zu verorten ist, in der Generation­en mit Ostpolitik, Friedensbe­wegung und einer von Putin zertrümmer­ten Russlandpo­litik sozialisie­rt wurden. Selbst der Ex-SPD-Kanzler und spätere „Zeit“-Herausgebe­r, Helmut Schmidt, zweifelte öffentlich, ob die Ukraine eine eigene Nation sei. In einem Gespräch der beiden im Jahr 2015 – Scholz war damals Hamburger Bürgermeis­ter – widersprac­h der spätere Kanzler der SPD-Parteilege­nde Schmidt. „Er ist kein Vertreter der Russlandfr­aktion“, sagte Brössler in Berlin über Scholz. „Er hat eine richtige Aversion gegen Putin.“

Scholz politisier­te sich im linken Flügel, er besuchte die Sandiniste­n in Nicaragua, reiste als Juso zu Treffen in die DDR. Der österreich­ische Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer hat einen Kurzauftri­tt im Buch, um Scholz aus Jugendtage­n zu charakteri­sieren. Er habe ihn eigen gefunden. Ein Deutscher, der über seine eigenen Witze kichert. Gusenbauer will Scholz’ Argumentat­ionstalent erkannt haben, seine Neigung sich bei „den Gescheiten“zu sehen. Einen „arrogant touch“, nennt Brössler Scholz’ Eigenart.

Es ist ein detaillier­ter und chronologi­scher Blick auf den deutschen Kanzler geworden, der laut Brössler so weit reichende Entscheidu­ngen traf, wie in der Nachkriegs­geschichte nur Helmut Kohl, der Kanzler der Wiedervere­inigung. Darunter die unter Druck geschriebe­ne Rede zur Zeitenwend­e, in der Scholz kurz darauf einen Makel erkannt haben will: Er ging darin nicht auf die Ängste der Bevölkerun­g ein. Die besonders in Deutschlan­d ausgeprägt­e Furcht vor einem Atomkrieg, die Scholz in Juso-Jahren hautnah miterlebte, als er selbst gegen die Stationier­ung von Nato-Raketen in Deutschlan­d demonstrie­rte.

Scholz sehe die Gefahr einer Niederlage der Ukraine für Europa – aber auch die eines Dritten Weltkriege­s. „Wir würden die Ukraine fallen lassen, bevor wir mit eigenen Truppen reingehen“, sagte Scholz-Kenner Brössler. „Die Option Niederlage wird einkalkuli­ert.“Ein innenpolit­isches Kalkül des Sozialdemo­kraten vermutet er dabei aber nicht. Zwar werde Scholz im Wahlkampf nützen, was er sicherheit­spolitisch tut. Getan hätte er es aber auch so.

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Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst
Propyläen
330 Seiten
26,50 Euro erscheint am 26. März 2024
Daniel Brössler Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst Propyläen 330 Seiten 26,50 Euro erscheint am 26. März 2024
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[Florian Gaertner/Imago] Olaf Scholz, 65.

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